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Marx reloaded

Krisen, Krach und Krieg
Die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus.
Serie / Teil V und Schluss:
Die aktuelle Phase des Kapitalismus – eine Bilanz *

von Winfried Wolf

Anstelle des 1990 verkündeten »Endes der Geschichte« erleben wir gegenwärtig die Renaissance eines zunehmend ungezügelten Kapitalismus, wie es ihn zuletzt in der Zeit zwischen den Weltkriegen gab. Mit dem unscharfen Begriff der »Globalisierung« wird heute eine Wirtschaftsordnung bezeichnet, die von einer steigenden Konzentration des Reichtums auf die Zentren (Teil I von Winfried Wolfs Analyse) und immer häufiger auftretenden zyklischen Konjunkturkrisen geprägt ist (Teil II). In unserer Serie folgte eine Untersuchung zu den sozialen Folgen dieser Entwicklung, der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich (Teil III), sowie eine Analyse der Versuche, kapitalismusimmanente Lösungen zur Bewältigung der Wirtschaftskrisen zu finden (Teil IV).


Der 1915 geborene Nobelpreisträger Paul A. Samuelson gilt als Amerikas, wenn nicht der Welt berühmtester Ökonom. Ende 2005 äußerte er in einem Interview: »Der Markt hat kein Herz, der Markt hat kein Gehirn. Er tut, was er tut. Jedes Mal, wenn ich eine Zeitung aufschlage, lese ich von einem neuen Unternehmen, das seine Pensionsverpflichtungen nicht einhält. So etwas hätte es früher nicht gegeben. (...) Wir sind eine Gesellschaft des Ich, Ich, Ich – und des Jetzt geworden. Wir denken nicht an andere und nicht an morgen.« (zitiert nach Der Spiegel, Nr. 38/2005)

All das und noch viel mehr hat es jedoch »früher« durchaus gegeben. Der über neunzigjährige Samuelson hat es erlebt und darüber Bücher verfaßt. Doch diese Tatsache wird verdrängt und vergessen, womit die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus erneut als etwas »Besonderes« – als geheimnisvolle »Globalisierung« – präsentiert werden kann. Richtig ist Samuelsons Bilanz, daß es sich um eine »Gesellschaft des Ich« handelt, daß die kapitalistische Wirtschaftsweise »nicht an morgen« denkt. Mit anderen Worten: »Das Primat des Marktes schließt das Primat des Denkens aus.« (Daniela Dahn)

Die aktuelle Phase des Kapitalismus ist geprägt von beschleunigter Zerstörung, tiefgreifender Entsolidarisierung und völliger Rücksichtslosigkeit gegenüber elementaren menschlichen Bedürfnissen und den Zukunftserwartungen späterer Generationen. Dies soll in dem letzten Teil der Serie in Form einer Bilanz auf fünf Ebenen konkretisiert werden.


Innere Dynamik des Kapitalismus: Der Zyklus der neuen Kriege konzentriert sich in
erheblichem Mass - wie hier im Irak - auf ölreiche Regionen


Ebene 1: Arbeit und Arbeitslosigkeit

Die Produktivkräfte sind heute so hoch entwickelt wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Im Fall eines sinnvollen Einsatzes der menschlichen Arbeit könnten in allen Ländern die Arbeitszeiten deutlich gesenkt und gleichzeitig alle elementaren menschlichen Bedürfnisse (die kulturellen natürlich eingeschlossen) befriedigt werden. Doch die gesellschaftliche Wirklichkeit sieht völlig anders aus.

Seit Jahrzehnten gibt es in den hochindustrialisierten Ländern steigende Erwerbslosenzahlen. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) registrierte Mitte der neunziger Jahre weltweit 150 Millionen Erwerbslose – 2004 waren es 190 Millionen. Die offizielle Arbeitslosigkeit in der BRD wird Anfang 2006 erneut die Fünf-Millionen-Marke übersteigen. In Japan liegt die offizielle Erwerbslosenzahl mit 3,2 Millionen nahe am Nachkriegsrekord. In den USA, die vielfach wegen ihres »Jobwunders« gepriesen werden, gibt es laut ILO-Statistik ein Arbeitslosenheer von 8,15 Millionen (2004).

Trotz – oder auch: wegen – dieser Massenarbeitslosigkeit auf Rekordhöhe werden die Arbeitszeiten derjenigen, die noch Normalarbeitsplätze haben, verlängert, meist bei real sinkenden Löhnen. Eine der ersten Maßnahmen, die die Große Koalition im November 2005 ankündigte, ist die Verlängerung der Lebensarbeitszeit auf ein Renteneintrittsalter von 67 Jahren. Arbeitszeitverlängerungen aber müssen die Erwerbslosigkeit weiter steigern.

Während Hunderte Millionen Erwachsene keine bezahlte Arbeit oder nur Minijobs haben, mußten laut ILO 2005 weltweit 350 Millionen Kinder und Minderjährige für ihren Lebensunterhalt und den ihrer Familien schuften.

Die Gebiete, auf denen gesellschaftlich sinnvolle Arbeit geleistet werden müßte, sind vielfältig: im Kampf gegen Armut, gegen Umweltzerstörung, zur Gestaltung lebenswerter Städte, im öffentlichen Verkehrssektor, für die Gewinnung alternativer Energien, im Engagement gegen Analphabetismus, im Gesundheitssektor, insbesondere zur Bekämpfung von AIDS. Doch in all diesen lebensnotwendigen Bereichen gibt es viel zu wenige Arbeitsplätze. Oft werden die bestehenden noch abgebaut. Gleichzeitig aber wächst bei dem Heer der Noch-Beschäftigten der Anteil derjenigen, die unsinnige, nutzlose, zerstörerische und entfremdete Arbeit verrichten.

Die Zahl der Steuerzahlenden nimmt ab, aber die Zahl der Steuerberater hat sich hierzulande in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Rechtlosigkeit und Willkür nehmen zu – aber die Zahl der deutschen Rechtsanwälte stieg in nur 15 Jahren von 60000 im Jahr 1990 auf 127000 im Jahr 2004 (vgl. FAZ v. 21.8.2004). In den USA wächst die Zahl derjenigen, die keinerlei Krankenversicherung haben. Gleichzeitig schnellte dort die Zahl der Schönheitsoperationen von 900000 im Jahr 1998 auf 3,3 Millionen 2005 hoch. Das Gewicht der materiellen Produktion, also Industrie und Landwirtschaft, reduziert sich ständig, aber das Geschäft mit der Zerstörung noch vorhandener Firmen blüht. Die Vielfalt der Lebensmittel und Genüsse sinkt – Stichwort Fastfood –, doch es werden immer mehr Transportkilometer zur Herstellung einer Ware von ein- und derselben Qualität verausgabt. In Europa erzeugte Walnüsse haben keinen Marktwert; die Walnüsse im Mövenpick-Eis werden aus China importiert. Die Zahl der Fernsehsender wächst proportional zum Abbau von vermittelten seriösen Informationen und kulturell anspruchsvollen Sendungen.

Bilanz: Der Kapitalismus ist immer weniger in der Lage, die vorhandene gesellschaftliche Arbeit im Interesse der menschlichen Bedürfnisse sinnvoll einzusetzen.

Das ist so neu nicht – und durchaus noch steigerungsfähig. Eugen Varga beschrieb den Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise von 1929 ff. folgendermaßen: »Schließlich blieb nichts anderes übrig, als zur systematischen massenhaften Vernichtung von landwirtschaftlichen Produktionen überzugehen. In den USA wurden im Jahre 1933 zehn Millionen Hektar, ungefähr ein Viertel der gesamten Fläche Baumwolle, in die Erde gepflügt. In Brasilien werden jährlich zehn Millionen Sack Kaffee, fast der jährliche Weltbedarf, ins Meer geworfen oder zum Straßenbau verwendet. Tee wird nicht mehr geerntet, ganze Schiffsladungen Orangen werden in London ins Meer geworfen. Fünf Millionen Schweine wurden von der Regierung der Vereinigten Staaten im Herbst 1931 aufgekauft und vernichtet. In Dänemark wurden wöchentlich 1500 Kühe geschlachtet und ihr Fleisch zu Kunstdünger verarbeitet. In Argentinien wurden Hunderttausende Schafe einfach niedergestochen, um der jüngeren Generation Platz zu machen. Ihr Transport in die Schlachthäuser hätte mehr gekostet als der Erlös.« Die Tageszeitung Tribune in Minneapolis, USA, brachte dies 1934 wie folgt auf den Punkt: »Wir, die wir gelernt haben, für unser tägliches Brot zu beten, beten nunmehr, daß es uns weggenommen werde: eine ebenso gigantische Abweichung auf dem Gebiet der Theologie wie auf dem Gebiet der Ökonomie.«


Ebene 2: Globalisierung und wachsende Privatmacht

Während Produktion und Dienstleistungen zunehmend weltweit vernetzt stattfinden und ihr Charakter sich im Weltmaßstab als wahrhaft gesellschaftlicher erweist, wächst die Macht einzelner Individuen und weniger Konzerne.

Die 500 größten Konzerne der Welt, die seit 40 Jahren in der Zeitung Fortune veröffentlicht werden, hatten in den 60er Jahren einen Umsatz, der rund 17 Prozent des weltweiten Bruttoinlandsproduktes entsprach – heute sind es 30 Prozent. Die Großaktionäre und Vorstandsvorsitzenden dieser 500 Unternehmen, die allein und direkt ein Arbeitskräfteheer von 46 Millionen Menschen kommandieren, bestimmen über das Leben von Hunderten Millionen Menschen. Sie treffen sich auf exklusiven Veranstaltungen – etwa jeweils zum Jahresanfang auf dem World Economic Forum (WEF) in Davos. Und sie sind organisiert in exklusiven Clubs. In der EU gibt es beispielsweise den »European Round Table« (ERT), wo die Bosse der 49 größten Konzerne versammelt sind. Mit Vorbedacht sitzen hier die Topleute (und nicht ihre Stellvertreter), weil diese Herren in ihren jeweiligen Ländern direkten Zugang zu den Regierenden haben und sich mit ihnen auf dem Tennisplatz oder Golfparcours treffen. Der ERT rühmt sich offen, die maßgeblichen Entscheidungen auf EU-Ebene beeinflußt und oft – wie im Fall des Maastrichter Vertrags – vorformuliert zu haben.

Auch das ist so neu nicht. 1909 formulierte Walter Rathenau, der Mitbegründer von AEG: »300 Männer, von denen jeder jeden kennt, leiten die wirtschaftlichen Geschicke des Kontinents.« Was damals für Europa galt, gilt heute global.

Karl Marx beschrieb im »Kapital« den Widerspruch von gesellschaftlicher Weltproduktion und konzentrierter ökonomischer Privatmacht und sah darin gleichzeitig eine Entwicklung, die über die bestehende kapitalistische Gesellschaft hinausweist. Er schrieb: »Je ein Kapitalist schlägt viele tot. Hand in Hand mit dieser (...) Expropriation vieler Kapitalisten durch wenige entwickelt sich die kooperative Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter (...), die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und damit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes. Mit der ständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung (...) Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise (...) Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateure werden enteignet.« (MEW 23, S. 790f.).


Ebene 3: Umweltzerstörung und Ölwirtschaft

Seit 2004 ist es amtlich: Auch George W. Bush gesteht inzwischen ein, daß »von Menschen zu verantwortende Emissionen« entscheidend sind für die bedrohlichen Klimaveränderungen. Diese wiederum sind in starkem Maß Resultat eines Kapitalismus, der stofflich gesehen in erheblichem Maß von Öl bestimmt wird. Das hat handfeste materielle Gründe.

Vom addierten Umsatz der 100 größten Industriekonzerne der Welt entfallen rund 60 Prozent auf diejenigen Unternehmen, die Ölkonzerne, Autokonzerne oder Flugzeugbau-Unternehmen sind. Die Abhängigkeit der Weltwirtschaft von dieser Öl-Auto-Flugzeuggruppe und damit von Rohöl und seinen Derivaten Diesel, Benzin, Kerosin und Raketentreibstoff ist in den letzten 15 Jahren trotz Ölpreisschocks, trotz Ölknappheit und in offenem Widerspruch zu den vielfältigen Debatten über Klimazerstörung und ihre Ursachen immer größer geworden.

Das Rohöl wird voraussichtlich innerhalb einer Generation zur Neige gehen. Es konzentriert sich auf immer weniger Regionen. Jeder, der einigermaßen rechnen kann, würde langfristig eine Politik der Energiewende einleiten. Im ölbasierten Kapitalismus findet jedoch – aus strukturellen Gründen – das Gegenteil statt. Diese Ölobsession ist so neu nicht:

Ohne Einladung
Sind wir gekommen
Siebenhundert (und viele sind noch unterwegs)
(...)
Und haben Dich gesehen
Plötzlich über Nacht
Öltank.
(...)
Eilet herbei, alle
Die ihr absägt den Ast, auf dem ihr sitzet
Werktätige!
Gott ist wiedergekommen
in Gestalt eines Öltanks.
(...)
Was ist für Dich ein Gras?
Du sitzest darauf.
Wo ehedem ein Gras war
Da sitzest jetzt Du, Öltank!
Und vor Dir ist ein Gefühl
Nichts.
Darum erhöre uns
Und erlöse uns von dem Übel des Geistes.
Im Namen der Elektrifizierung
Der Ratio und der Statistik!

Bertolt Brecht schrieb das Gedicht »Siebenhundert Intellektuelle beten einen Öltank an« Ende der 1920er Jahre.


Ebene 4: Reden vom Frieden und Rüsten zum Krieg

Das Völkerrecht – u.a. die UN-Charta – verbietet grundsätzlich Kriege, es sei denn, eine unmittelbare Gefahr für den Weltfrieden müsse – mit Zustimmung der Vereinten Nationen – abgewendet werden. Gegenüber früheren Perioden der Menschheitsgeschichte, in denen Kriege auch offiziell als »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« definiert wurden, ist dies ein Fortschritt. Doch parallel mit der Globalisierung kam es zur »Enttabuisierung des Militärischen« (Gerhard Schröder). In der politischen Praxis werden Kriege – mit oder ohne UN-Mandat – erneut als konkretes Mittel der Politik, vor allem aber als Instrumente der Ökonomie eingesetzt.

Erneut ist es in erster Linie die innere Logik des Kapitals, die die Bekenntnisse zum Frieden als hohles Geschwätz erscheinen lassen. Der Kapitalismus kennt eine innere Dynamik zur Militarisierung, zu Rüstung und Krieg. Es gibt einen Zusammenhang von Weltmarkt, Kapitalexpansion, Weltmarktkonkurrenz, militärischer Absicherung der Expansionen, neuen Kriege und Ölknappheit. Im Rahmen der Suche nach neuen Anlagesphären – und als Resultat der Beschränkung des inneren Marktes und des Konsums – gibt es darüber hinaus einen spezifischen Drang von Kapital in den Rüstungssektor, da hier die Regierungen langfristig hohe Profitmargen garantieren. In der Konsequenz hat sich der Umsatz der 100 größten Rüstungskonzerne im Zeitraum 2001 bis 2005 von 160 auf 300 Milliarden US-Dollar knapp verdoppelt. Es ist kein Zufall, daß der Zyklus der neuen Kriege sich in erheblichem Maß auf Regionen konzentriert, die Ölregionen oder Regionen der Öltransportwege sind.

Die US-Regierung ist unbestreitbar führend bei Aufrüstung und neuen Kriegen. Doch die EU ist im Begriff, auf dem Gebiet der Militarisierung aufzuholen. Weltweit haben sich die Rüstungsausgaben 1998 bis 2005 von 765 Milliarden US-Dollar auf 1 050 Milliarden US-Dollar erhöht. Sie stiegen in den USA von 200 auf 400 Milliarden US-Dollar. Sie stiegen in Westeuropa (NATO-Staaten) von 150 auf 230 Milliarden US-Dollar.

2000 wurde mit der EADS der erste länderübergreifende militärisch-industrielle Komplex in Europa geschaffen. Interessanterweise handelt es sich um den ersten »echten« europäischen Konzern. Beschlossen ist weiterhin eine EU-Armee mit 60000 Mann/Frau, die in drei bis vier Jahren kriegsfähig sein soll. Derzeit werden eine Reihe spezieller Angriffswaffen hergestellt wie der Eurofighter, der A 400M-Militärtransporter oder das Satellitensystem Galileo. All dies zielt unzweideutig auf Angriffskriege. Die genannten Waffensysteme bzw. die EU-Eingreiftruppe wird Ende dieses Jahrzehnts einsatzbereit sein.

Auch das ist nicht neu. Und es droht, weit schlimmer zu kommen. Es war Rosa Luxemburg, die den engen Zusammenhang zwischen kapitalistischer Akkumulation und Aufrüstung bzw. Kriegen analytisch herausarbeitete und am Beispiel des Ersten Weltkriegs unterstrich, daß der Kapitalismus in offenem Widerspruch zu allen zivilisatorischen Errungenschaften steht: »Geschändet, entehrt, im Blute watend, von Schmutz triefend – so steht die bürgerliche Gesellschaft da, so ist sie. Nicht, wenn sie, geleckt und sittsam, Kultur, Philosophie und Ethik, Ordnung, Frieden und Rechtsstaat mimt – als reißende Bestie, als Hexensabbat der Anarchie, als Pesthauch für Kultur und Menschheit, so zeigt sie sich in ihrer wahren, nackten Gestalt.« (Rosa Luxemburg Werke, Bd. 4, S. 53)


Ebene 5: Möglichkeiten für eine rationale Weltpolitik

Die Möglichkeiten einer rationalen und demokratisch geplanten Produktion sind so groß wie nie zuvor. Gleichzeitig ist die Irrationalität, welche die vorherrschende Produktionsweise bestimmt, so groß wie kaum je zuvor. Es besteht heute die Gefahr eines Kollapses des Weltfinanzsystems und einer neuen Weltwirtschaftskrise.

Im Rahmen dieser Serie wurden die klassischen ökonomischen und sozialen Widersprüche und deren Verschärfung beschrieben. Hinzu gesellt sich eine neue Finanz- und Spekulationskrise, für die die Stichworte »Immobilienblase« (in Spanien, Großbritannien und USA), »neue Börsenblase« und »ständig steigende öffentliche und private Schulden« stehen mögen.

Besonders dramatisch kann sich die Krise der Weltleitwährung US-Dollar entwickeln. Erstmals seit 75 Jahren gibt es die Situation, daß die führende kapitalistische Macht, die USA, ökonomisch ausgezehrt und ausgehöhlt, gleichzeitig Militärmacht Nummer eins ist. Eine vergleichbare Situation gab es nach dem Ersten Weltkrieg, als Großbritannien noch die führende Militärmacht war, ökonomisch aber bereits am Boden lag und bald darauf von den USA abgelöst wurde.

Die gewaltigen Defizite von Haushalt und Leistungsbilanz der USA werden in großem Umfang von den asiatischen Ländern Japan, Südkorea, Taiwan, Malaysia und vor allem von China, also in erheblichem Umfang von Entwicklungsländern, finanziert. Diese kauften bisher in ausreichendem Umfang US-Staatsanleihen, um erstens ihre eigenen Währungen niedrig zu halten und ausreichend exportieren zu können, und zweitens, um den Konsum in den USA, und damit auch ihre eigenen Exporte zu stützen.

Das wird nicht ewig so weitergehen. Die Gefahr eines Kollapses des Finanzsystems ist real, und er würde zwangsläufig in eine neue Weltwirtschaftskrise münden. Diese neue Krise würde das Arbeitslosenheer von weltweit rund 200 Millionen und in der BRD von fünf Millionen Erwerblosen nochmals drastisch anwachsen lassen. Der soziale und politische Sprengstoff würde nochmals vergrößert. Mehrere Kommentatoren haben jüngst auf die Parallelen zur Weltwirtschaftskrise 1929–34 verwiesen – auch konkretisiert für die große Koalition. In der Financial Times Deutschland schrieb Wolfgang Münchau unter der Überschrift »Wie damals, 1930« unter Verweis auf die Folgen der neuen »Sparmaßnahmen« und der Mehrwertsteuererhöhung der Regierung Merkel: »Was sich in den Koalitionsverhandlungen momentan abspielt, ist die Anbahnung einer Katastrophe. Unweigerlich werden viele bald die Schlußfolgerung ziehen, daß demokratische Politiker nicht in der Lage sind, für Wachstum und Vollbeschäftigung zu sorgen.« (FTD v. 26.10.2005)


Oelobsession trotz Klimawandels: zerstörte Bohr- und Förderinsel im
Golf von Mexiko nach dem Hurrikan "Katrina" (30. August 2005)


* * *

Die fünffache Bilanz lautet: Der allein übriggebliebene Kapitalismus ist in keiner Weise in der Lage, die elementaren Bedürfnisse der jetzt lebenden Menschen und der nächsten Generation zu befriedigen. Im Gegenteil: Auf allen hier behandelten Ebenen zeichnet sich eine weitere dramatische Verschärfung der Widersprüche ab. Karl Marx: »Die kapitalistische Produktion entwickelt (...) nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (MEW 23, S.529 f.) Daher, so Marx an anderer Stelle, wird dem Kapital »der Rat gegeben, abzutreten und einer höheren Stufe der Produktion Platz zu machen.« (Grundrisse, S.636)

Diese Schlußfolgerung läßt sich auch in folgende Worte fassen: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den sozialen Lebensinteressen (...) nicht gerecht geworden. (...) Nach dem furchtbaren Zusammenbruch (...) kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen. Inhalt und Ziel dieser Neuordnung kann nicht mehr das kapitalistische Gewinn- und Machtstreben sein. (...) Durch eine gemeinwirtschaftliche Ordnung wird das (...) Volk eine Wirtschafts- und Sozialordnung erhalten, die dem Recht und der Würde des Menschen entspricht.«

Dieses Zitat stammt aus dem CDU-Parteiprogramm des Jahres 1949, dem »Ahlener Programm«. Es wurde geschrieben vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise, des Faschismus, des Holocaust und von fünfzig Millionen Toten. Es ist notwendig, offen auszusprechen, daß wir vor vergleichbaren Perspektiven stehen, wenn der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise weiter Raum gegeben wird. Daher ist es logisch zu konstatieren: »Eine andere Welt ist möglich!« Das meint natürlich: eine andere Gesellschaftsordnung und somit vor allem: »Eine andere Ökonomie ist nötig!«

 

 

 

Quellen (Auswahl):

– Arbeitslosenzahlen weltweit nach: International Labour Organization, Dezember 2005;

– Kinderarbeit nach: junge Welt vom 13.6.2005 (nach ILO-Angaben);

– Rechtsanwälte in der BRD: Nach FAZ vom 21.8.2004;

– Schönheitsoperationen in USA nach: American Society of Plastic Surgeons, November 2005;

– Eugen Varga, Die Krise des Kapitalismus und ihre Folgen, Frankfurt/M. 1969, S. 287;

– Tribune-Zitat (USA) bei E. Varga, a.a.O., S.286;

– Ölabhängigkeit im Kapitalismus: Vgl. Winfried Wolf, Fusionsfieber. Das große Fressen, Köln 2001 (PapyRossa), S. 87ff.;

– Angaben zur Aufrüstung nach: SIPRI-Jahrbuch 2005; IISS – Military balance 2004/2005 (www.iiss.org) und Guernica. Antikriegszeitung, Linz, 6/2005;

– Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Rohentwurf 1857–58), Berlin/DDR 1953.