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Marx reloaded

Schatzbildung durch Lohnraub
Die Wiederkehr des ordinären Kapitalismus.
Serie / Teil III:
Die politische Ökonomie von Reich und Arm

von Winfried Wolf

Anstelle des 1990 verkündeten »Endes der Geschichte« erleben wir gegenwärtig die Renaissance eines zunehmend ungezügelten Kapitalismus, wie es ihn zuletzt in der Zeit zwischen den Weltkriegen gab. Mit dem unscharfen Begriff der »Globalisierung« wird heute eine Wirtschaftsordnung bezeichnet, die von einer zunehmenden Konzentration des Reichtums auf die Zentren (Teil I von Winfried Wolfs Analyse) und immer häufiger auftretenden zyklischen Konjunkturkrisen geprägt ist (Teil II). Der heutige Teil beschäftigt sich mit den sozialen Folgen dieser Entwicklung: der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich.

Vorhersagen von Krisen im Kapitalismus sind kaum möglich. Der Grund ist in den vielfältigen antagonistischen Widersprüchen zu suchen, die der kapitalistischen Produktion selbst zugrunde liegen. Es war weder Karl Marx, noch wäre es einem modernen Computermodell möglich, die exakten Wechselwirkungen dieser Widersprüche zu berechnen. Diese sind zu komplex – sie schließen sich einerseits aus, andererseits bedingen sie einander.

Karl Marx irrte oft in der konkreten Vorhersage von Krisen, betonte aber, daß dies in der Natur der Sache liege. In einem Brief an Friedrich Engels vom 8. Dezember 1857 schrieb er: »Dear Frederick, (...) da Lupus (d.i. Wilhelm Wolff) beständig Buch über unsere Krisenvorhersagen führte, so erzähle ihm, daß der Economist von letztem Sonnabend erklärt, die Endmonate von 1853, durch ganz 1854, Herbst 1855 und ›the sudden changes of 1856‹ (die plötzlichen Veränderungen des Jahres 1856, W.W.) habe Europa immer nur hair breadth escape vom impending crash (die Rettung um Haaresbreite vom drohenden Krach) gehabt.« (MEW 29, S. 225)

So macht es Sinn, sich bei konkreten Krisenvorhersagen zurückzuhalten. Die Tatsache, daß sich die Konjunktur in einem Zyklus bewegt und daß auf jeden Aufschwung ein Abschwung und – in der aktuellen Phase der kapitalistischen Produktion – eine Krise mit absolut rückläufiger Produktion – folgt, ist jedoch unbestreitbar.

Da das Zugeständnis, daß Krisen etwas mit dem Kapitalverhältnis selbst zu tun haben, diese Wirtschaftsweise disqualifiziert, versuchen bürgerliche Ökonomen, die Krisenanfälligkeit im Bereich von Naturgewalten und bei der Meteorologie anzusiedeln. Am 26. August 1932, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, schrieb der Leiter des Deutschen Institutes für Konjunkturforschung, Professor Ernst Wagemann, über den Charakter der Krise: »Solche von außen her auf die Wirtschaft einwirkenden Ereignisse sind ebensowenig wie Erdbeben, Brandkatastrophen usw. mit den Methoden der Konjunkturforschung vorauszusehen, auch ihre Folgen entziehen sich jeder quantitativen Voraussicht.«


Tanz auf den Trümmern des Sozialstaates: Eröffnung des Wiener Opernball


Verortung im neuen Zyklus

Auch wenn eine exakte Vorhersage der nächsten Krise spekulativ ist, so ist es doch sinnvoll, den aktuellen Stand im Krisenzyklus zu bestimmen. Die nebenstehende Tabelle gibt die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in der Triade (Nordamerika, Japan und Europa) und in China an. Da beim BIP alle Einkommen, auch die der Dienstleistungssektoren, zusammengefaßt sind, wird die Zyklizität abgeschwächt wiedergegeben. Im Fall einer Wiedergabe der industriellen Produktion wären die Ausschläge nach oben und unten stärker. So sank in den Krisenjahren 2001 und 2002 in allen drei imperialistischen Zentren die Produktion auch absolut. Dennoch erkennt man auch bei diesen BIP-Zahlen:

– Es gibt einen weitgehend synchronen Verlauf des Konjunkturzyklus in den zwei imperialistischen Zentren Nordamerika und Europa. Japan spielt die bekannte Sonderrolle mit seiner langen Stagnationsphase 1992 bis 2002.

– Der Aufschwung des vorangegangenen Zyklus endete 2000 und mündete 2001 und 2002 in zwei Krisenjahre.

– In der BRD und in weiteren Teilen der Eurozone gab es eine leichte zeitliche Verschiebung des zyklischen Verlaufs, wie er von der US-Ökonomie vorgegeben wurde: Hier waren vor allem 2002 und 2003 die entscheidenden Krisenjahre.

– 2003 begann in den USA der neue Aufschwung. Die Eurozone setzte 2004 zu einem Aufschwung an, der jedoch 2005 bereits wieder abebbte.

– Die chinesische Ökonomie erlebte in all diesen Jahren keine größeren Einbrüche des BIP. Allerdings äußerte sich die internationale Krise in den Jahren 2001 und 2002 auch hier in reduzierten Wachstumsraten.

2005 gab es einen deutlichen Rückgang des Wachstums in den USA. In der Eurozone hat sich das Wachstum gegenüber dem Vorjahr fast halbiert; es liegt mit 1,2 Prozent (BRD: 0,8 Prozent) nahe an der Stagnation. Zum Jahreswechsel 2005/2006 ist der Zyklus bereits durch Elemente der Überproduktion gekennzeichnet. In der internationalen Autoindustrie – der für den weltweiten Zyklus wichtigsten Branche – gab es 2005 Kapazitäten zur Fertigung von rund 65 Millionen Autos; die reale Produktion lag jedoch bei 53 Millionen. Trotz unausgelasteter Kapazitäten von gut einem Fünftel wurde vielfach auf Halde produziert bzw. die zuviel produzierten Autos können nur durch massive Rabatte verkauft werden. Da es allerorten – auch aufgrund der noch niedrigen Zinsen – zu einer Ausweitung der Kredite kommt, kann die Nachfrage noch künstlich gesteigert und verlängert werden. Seit Frühjahr 2005 begann die Fed, die US-Zentralbank, die Zinsen wieder deutlich anzuheben, im November 2005 folgte die Europäische Zentralbank (EZB).

Bei einem oberflächlichen Blick könnte man sagen: Die nächste internationale Krise wird voraussichtlich 2007 oder 2008 eintreten. Und darüber könnte zwischenzeitlich unter dem Motto »business as usual« zur Tagesordnung übergegangen werden.

Beschränkter Massenkonsum

Nun gibt es jedoch eine Reihe von Faktoren, die eine besondere Unsicherheit für den weiteren Gang des Zyklus darstellen und die eine Krise früher auslösen bzw. deren Tiefe vergrößern könnten. Dazu zählen vor allem die Ungleichgewichte im Weltfinanzsektor. Doch auch ohne diese Besonderheiten gibt es einen klassischen Widerspruch innerhalb des kapitalistischen Krisenzyklus, der die kommende Krise vertiefen muß. Es handelt sich um den Widerspruch zwischen der kaum begrenzten Steigerung von Produktivkraft und Produktion und der beschränkten Massenkaufkraft. Dieser Widerspruch spielt im modernen, neoliberalen Kapitalismus eine weit größere Rolle als in der vorausgegangenen Phase. Er wurde von Karl Marx in Band III des »Kapital« als entscheidend für die kapitalistische Krise bezeichnet und wie folgt charakterisiert: »Die Bedingungen der unmittelbaren Exploitation und die ihrer Realisierung sind jedoch nicht identisch. Sie fallen nicht nur nach Zeit und Ort, sondern auch begrifflich auseinander. Die einen sind nur beschränkt durch die Produktivkraft der Gesellschaft, die anderen (...) durch die Konsumtionskraft der Gesellschaft. Dies letztere ist aber bestimmt (...) durch die Konsumtionskraft auf Basis antagonistischer Distributionsverhältnisse, welche die Konsumtion der großen Masse der Gesellschaft auf ein nur innerhalb mehr oder weniger engen Grenzen veränderliches Minimum reduziert.« (MEW 25, S. 254) Mit anderen Worten desselben Autors: »Es werden zuviel Waren produziert, um den in ihnen enthaltenen Wert und darin eingeschlossenen Mehrwert unter den durch die kapitalistische Produktion gegebenen Verteilungsbedingungen und Konsumtionsverhältnissen zu realisieren und in neues Kapital rückverwandeln zu können.« (a. a. O., S. 268)

In der aktuellen volkswirtschaftlichen Debatte ist oft die Rede von einer »zu hohen Sparquote«, von einer »(falschen) Zurückhaltung der Konsumenten« aufgrund von »typisch deutscher Zukunftsangst«. Demgegenüber seien die USA ein wahres Konsumentenparadies. Auch wirke der Slogan »Geiz ist geil« – und seine Folgen – kontraproduktiv. Im Spiegel war zu lesen: »Während die US-Verbraucher trotz Terrorhysterie und Rezession shoppen wie selten zuvor, verweigern sich die Deutschen einfach. Der Unterschied: Die Amerikaner treibt ein unerschütterlicher Glaube in die Geschäfte (...), an Gegenwart und Zukunft des Landes. Das Vertrauen in die Politik ist bei den Deutschen nicht besonders ausgeprägt (...) Nirgendwo ist die ›gefühlte Lage‹ so schlecht. Und um Gefühle geht es dauernd (...) Es fehlt an Glauben in die Wirtschaft und in ihre Elite.« (Der Spiegel, Nr. 51/2004)

Hiermit werden die Verhältnisse auf den Kopf gestellt. Nicht das »Sparverhalten« und nicht der »Geiz« beschränken den Konsum. Es sind die seit langem stagnierenden individuellen Einkommen und die rückläufige Zahl der Erwerbstätigen und der abhängig Beschäftigten – gepaart mit der wachsenden Massenerwerbslosigkeit –, die die privaten Konsumausgaben reduzieren. Diese Masseneinkommen – und damit die Nachfrage – stagnieren wiederum, weil zugleich die Gewinne steigen. Die Armut wächst, weil parallel die Anhäufung des Reichtums bis dahin kaum vorstellbare Ausmaße annahm.

Produktion von Reich und Arm

Die Nettogewinne der deutschen Kapitalgesellschaften – nur Aktiengesellschaften und GmbH – lagen 2004 um 113 Prozent über dem Niveau von 1991. Die Reallöhne in der BRD gingen im Zeitraum 1991 bis 2004 zurück (um rund 3,5 Prozent). Sie liegen heute ungefähr auf dem Niveau, das Mitte der achtziger Jahre in Westdeutschland erreicht war. Gleichzeitig haben sich die Bezüge der Vorstände der deutschen Aktiengesellschaften allein im Zeitraum 1997 bis 2003 verdoppelt – bereits preisbereinigt, also in realen Werten.

Die Lohnquote – der Anteil der Löhne und Gehälter am gesamten Volkseinkommen – sank seit 1980 fast kontinuierlich. Sie lag vor 25 Jahren bei 75 Prozent, war bis zum Wendejahr 1990 auf 68 Prozent gesunken. Danach stieg sie bis 1994 leicht an und sank bis 2003 auf 67 Prozent. Der zitierte Anstieg der Gewinne im gleichen Zeitraum korreliert mit dieser Entwicklung.

Selbst der Verweis auf die »zu hohe Sparquote« ist Unsinn. Die Financial Times Deutschland (FTD) konstatierte dazu Mitte 2005: »In den vergangenen Jahren ist die Sparquote zwar gestiegen, aber vor allem deshalb, weil sie zuvor im Börsenboom stark zurückgegangen war. Diese Korrektur ist jetzt abgeschlossen. Ende 2003 sank (!) die Sparquote sogar wieder, auf eben jene 10,6 Prozent. Sie liegt jetzt um 0,4 Prozentpunkte unter – und nicht über – dem Durchschnitt seit der Wiedervereinigung.«

In den USA ist die reale Entwicklung nicht völlig entgegengesetzt. 1991 kam es hier erstmals zu Reallohnverlusten. Danach gab es bei den realen Einkommen weitgehend Stagnation. Erst 2001 wurde wieder das Niveau von 1991 erreicht. Im Zeitraum 2001 bis 2004 stiegen die Reallöhne wieder leicht an. Allerdings wuchs die Produktivität dreimal schneller. Doch 2005 gab es erneut einen Reallohnabbau. Die FTD geht davon aus, daß der Grund für diese Kluft darin liegt, daß es »zu einer langfristigen Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern« kam. So lag der gewerkschaftliche Organisationsgrad 1983 noch bei 20 Prozent. Er liegt inzwischen bei 12,5 Prozent.

Wenn dennoch immer wieder auf das hohe Wachstum des Konsums in den USA verwiesen wird, so gibt es dafür eine Reihe spezifischer Erklärungen. Dazu zählen das stetige Wachstum der Bevölkerung und der Zahl der Erwerbstätigen (in der BRD stagniert die Bevölkerung; die Zahl der Erwerbstätigen ist deutlich rückläufig). Es gibt einen rasanten Anstieg der Immobilienpreise, was zu Einkommenssteigerungen und zu besseren Möglichkeiten der Kreditaufnahme führt. Letzteres wird zusätzlich durch ein US-Zinsniveau begünstigt, das seit Jahren deutlich unter demjenigen in der Eurozone liegt.

Ein entscheidender Grund ist auch die unterschiedlich hohe Kreditaufnahme. In der BRD stiegen die Konsumentenkredite im Zeitraum 1998 bis 2004 um 35 Prozent, in den USA um 65 Prozent. Das heißt: Auch in der BRD diente der Anstieg der Kreditaufnahme zur Überbrückung der Absatzschwierigeiten. In den USA liegt das Niveau dieser künstlichen Nachfrage allerdings nochmals deutlich höher. Inzwischen übersteigt in den USA die Verschuldung der privaten Haushalte neun Billionen US-Dollar. Das bedeutet, daß der Durchschnittshaushalt mehr Schulden hat, als er im Jahr netto verdient. In beiden Fällen – USA und BRD – ist offenkundig, daß diese Art Nachfrage nicht unendlich fortgesetzt werden kann. In der BRD waren 1994 zwei Millionen Haushalte überschuldet. 2004 waren es 3,3 Millionen.

Die obengenannten Einkommensdifferenzen münden – wesentlich unterstützt von den gegensätzlichen Eigentumsverhältnissen, die für Klassengesellschaften charakteristisch sind – in krassen Prozessen der Reichtumsanhäufung und der Verbreitung von Armut. In der BRD hat sich das private Geldvermögen – ohne Immobilien und Produktivvermögen – im Zeitraum 1991 bis 2004 mehr als verdoppelt – von 2020 Milliarden Euro auf 4076 Milliarden Euro. Die Zahl der Millionäre – Menschen mit mehr als einer Million Euro als flüssigem Geldvermögen auf dem Konto (erneut: ohne Immobilienbesitz) stieg von 510000 im Jahr 1997 auf 760300 im Jahr 2004. Wobei im Jahr eins nach Hartz IV mit großem Bedauern festgestellt wurde, daß die Zahl der Euromillionäre 2004 »nur« um 4400 anstieg. Dabei verfügen allein diese neuen 4 400 Euromillionäre über ein Geldvermögen von 4,4 Milliarden Euro. Insgesamt entspricht das auf Konten gehortete Geldvermögen der BRD-Millionäre von vier Billionen dem Doppelten des Bruttoinlandsproduktes des Landes.


Es handelt sich um einen internationalen Prozeß. Weltweit wuchs das flüssige Geldvermögen der Dollarmillionäre auf 30800 Milliarden US-Dollar im Jahr 2004. Das war allein gegenüber dem Vorjahr ein Anstieg um 8,2 Prozent. Dieses Geldvermögen befindet sich in den Händen von 8,3 Millionen Millionären. Gegenüber dem Jahr 2003 waren das 600000 Dollar-Millionäre mehr; einen so großen absoluten Anstieg hat es nie zuvor gegeben. Das Geldvermögen dieser Geldelite liegt ziemlich genau auf der Höhe des Welt-Bruttonationaleinkommens (wobei das letztere die Summe der jährlichen Einnahmen ist und das erstere die Anhäufung von Vermögen darstellt, das über einen längeren Zeitraum akkumuliert – aus fremder Arbeit angeeignet – wurde). Interessanterweise wuchs die Zahl der Dollarmillionäre am schnellsten in Afrika (2004: + 13,7 Prozent), in Nordamerika (+ 9,7 Prozent), im Mittleren Osten (9,5 Prozent) und in der Region Asien/Pazifik (+ 8,2 Prozent).

Bei der genannten Gesamtzahl von 30800 Milliarden Dollar flüssigem Geldkapital handelt es sich nur um jenen Betrag, den die Dollarmillionäre auf sich konzentrieren. Insgesamt – die nicht ganz so vermögenden Privaten und die Unternehmen mitberücksichtigt – gibt es weltweit ein flüssiges Geldvermögen von rund 60 Billionen (60000 Milliarden) Euro.

Nun wird die Debatte über Gewinnmaximierung und Reallohnabbau und über Reich und Arm in der Regel moralisch geführt. Christliche und humanistische Kreise betonen das »schreiende Unrecht« angesichts eines obszön zur Schau gestellten Luxus, während sich die Armut auch in den imperialistischen Zentren – ganz zu schweigen von der sogenannten Dritten Welt – rasant ausweitet. Im Gegensatz zu dem Argument, dies sei eine »falsche Neiddebatte«, ist die Argumentation, die Anhäufung dieses Reichtums sei »ungerecht«, völlig berechtigt.

Doch es handelt sich bei dieser wachsenden Kluft von Reich und Arm auch um einen äußerst bedeutenden Vorgang in der politischen Ökonomie, der stark negative Folgen für die Menschen hat. Es geht nicht darum, daß die reichen Privatpersonen und die großen Unternehmen mit Milliarden US-Dollar auf dem Konto Schatzbildung für das private Vergnügen betreiben oder wie Dagobert Duck gelegentlich zum puren Vergnügen in ihre Geldberge eintauchen. Karl Marx: »Mit der Ausdehnung der Warenzirkulation wächst die Macht des Geldes, der stets schlagfertigen, absolut gesellschaftlichen Form des Reichtums. (...) Das Geld ist aber selbst Ware, ein äußerlich Ding, das Privateigentum eines jeden werden kann. Die gesellschaftliche Macht wird so zur Privatmacht der Privatperson.« (MEW 23, S. 145f.) Vor allem aber gilt nun, was Marx im Zusammenhang mit dem zitierten Widerspruch Produktion/Konsumtion hervorhob: »Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde.« (MEW 25, S. 501)

Hinter der wachsenden Kluft von Arm und Reich, hohen Gewinnen und Reallohnsenkungen steht ein vierfacher Prozeß:

1. Das zugunsten von Unternehmern und Reichen veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnis und die damit verbundenen Damm- und Tabubrüche unterschiedlicher Art (Tarifflucht, Aushöhlung des Flächentarifvertrags, Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe/Hartz IV usw.) führen zu fortgesetzten Lohnabsenkungen. Diese lassen die Gewinne und den Reichtum explodieren.

2. Im Inland stagnieren oder sinken die Masseneinkommen. Die Binnenkonjunktur lahmt. Der Widerspruch zwischen immer mehr beschränkter Konsumtionskraft und hohem Produktionsoutput wiederum führt zu verschärften Wirtschaftskrisen.

3. Damit erhöht sich zugleich der Druck auf die Löhne und der Drang auf den Weltmarkt. Letzteres wiederum verschärft die Konkurrenz und die Tendenz, diese Weltmarktkonkurrenz militärisch abzusichern und gegebenenfalls »auszutragen«.

4. Die gewaltigen Profite und die aufgehäuften privaten Geldvermögen finden kaum Anlage im Inland und suchen solche global.

Conrad Schuhler vom Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw) in München: »Was machen die Reichen mit ihren Billionen? Sie schicken das Geld rund um den Globus, um die Anlage mit der höchsten Rendite ausfindig zu machen. Weltweit kreisen 60 Billionen Euro privates Geldvermögen – das ist das Dreißigfache des deutschen Sozialproduktes – um sich dort niederzulassen, wo der höchste Profit herausspringt. Dies ist der springende Punkt der Globalisierung des Finanzmarktes.« Karl Marx beschrieb den unbegrenzten Trieb der Schatzbildung im »Kapital«, Band I, wie folgt: »Der Trieb der Schatzbildung ist von Natur maßlos. Qualitativ oder seiner Form nach ist das Geld schrankenlos, d.h. allgemeiner Repräsentant des stofflichen Reichtums, weil in jede Ware unmittelbar umsetzbar. Aber zugleich ist jede Geldsumme quantitativ beschränkt, daher auch nur Kaufmittel von beschränkter Wirkung. Dieser Widerspruch zwischen der quantitativen Schranke und der qualitativen Schrankenlosigkeit des Geldes treibt den Schatzbildner stets zurück zur Sisyphusarbeit der Akkumulation. Es geht ihm wie dem Welteroberer, der mit jedem neuen Land nur eine neue Grenze erobert.« (MEW 23, S. 147)


Den "Kräften des Marktes" ausgeliefert

Auch wenn für diese Entwicklung letzten Endes die allgemeinen Rahmenbedingungen und die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse entscheidend sind, so sind es doch immer auch konkrete Maßnahmen der Politik, die zur Entwicklung eines »Turbokapitalismus« – tatsächlich des ordinären Kapitalismus – beitragen. Die Steuerreform des Jahres 2000 befreite die Kapitalgesellschaften von jährlich 15 Milliarden Euro Steuerzahlungen. Sie erhöhte entsprechend die Profite und ließ den Staat verarmen bzw. produzierte den Druck zum Abbau des Sozialstaats. Die US-Steuergesetzgebung war in dieser Hinsicht Vorbild.

Die von der Bundesregierung 2002 beschlossene Abschaffung der Versteuerung von Gewinnen aus dem Verkauf von Unternehmensbeteiligungen trug massiv zur Zerschlagung von Unternehmen und zum Aufstieg der »Heuschrecken-Gesellschaften« bei.

Die Bildung der Freihandelszone NAFTA zwischen Kanada, den USA und Mexiko beschleunigte die Standortkonkurrenz in Nordamerika. Die EU-Osterweiterung wirkte in der gleichen Richtung in Europa. Die Weigerung, Kerosin zu besteuern, und die gezielte – von der EU-Kommission explizit gedeckte – staatliche Förderung von regionalen Airports hat den Aufstieg der Billigflieger zur Folge. Die Abschaffung des Sterbegeldes führt zum Aufstieg der Sargdiscounter und zu Billigbestattungen in Osteuropa.

Die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte zum 1. Januar 2007 reduziert ein weiteres Mal die Binnennachfrage der privaten Haushalte und verschärft die Krisentendenzen. Der Chef des Institutes für Wirtschaftsforschung Halle, Udo Ludwig, äußerte mit Blick auf diese Steuererhöhungen zum Jahresende 2005: »2007 kommt ein gehöriger Dämpfer. Wir erwarten zwar keine Rezession, aber die Gefahr ist da.« Ein großes Risiko sei dabei »vor allem die mögliche Abschwächung der Weltwirtschaft.« (FAZ, 20.12.2005)


Quellen (Auswahl):
– Zitat Ernst Wagemann 1932: wiedergegeben in: Fred Oelßner, Die Wirtschaftskrise – Die Krisen im vormonopolistischen Kapitalismus, Berlin/DDR 1949, S.9;
– Konsumverhalten USA/BRD nach: Der Spiegel Nr. 51/2004;
– Kluft, Gewinne und Nominallöhne nach: Conrad Schuhler (isw) in: UZ vom 4.11.2005;
– Vorstandsbezüge und Reallöhne 1997-2003 nach: Der Spiegel Nr. 17/2005;
– BRD-Sparquote: FTD vom 14.5.2005;
– Reallöhne in den USA: FTD vom 11.5.2005;
– Verschuldung in den USA nach: Der Spiegel Nr. 51/2004;
– Reichtum in Deutschland nach Süddeutsche Zeitung vom 24.10.2003 und vom 24.12.2004; FTD vom 10.6.2005 und 21.6.2005;
– Weltweiter Reichtum der Dollarmillionäre nach World Wealth Report 2005, zusammengefaßt u.a. in: FTD vom 10.6.2005; jW vom 11.6.2005.
(Die Folgen I und II von Winfried Wolfs Analyse erschienen Montag und Dienstag dieser Woche an dieser Stelle, die Teile IV und V folgen Freitag und Sonnabend/Sonntag)