Sektion Zürich
 
anklicken Antiglobalisierung
anklicken ArbeiterInnenbewegung
anklicken Bildungspolitik
anklicken Frauenbewegung
anklicken Geschichte
anklicken Imperialismus & Krieg
anklicken International
anklicken Kanton Zürich
anklicken Marxismus
anklicken Umweltpolitik

anklicken Startseite
anklicken Über uns
anklicken Agenda
anklicken Zeitung
anklicken Literatur
anklicken Links
anklicken Kontakt

Schwerpunke / Kampagnen
anklicken Bilaterale II


Großbritannien: Die Versuche zur Zerschlagung einer sozialen Einrichtung

John Lister - aus Inprekorr Nr. 5/2011, September/Oktober


Die Entwicklungen rund um das britische Gesundheitssystem sind ein recht gutes Abbild der Situation in Europa und im weltweiten Rahmen. Die Gesundheitsversorgung ist die weltweit größte Industrie mit einem jährlichen Umsatz von über 5 Billionen US Dollar (ungefähr 3,5 Billionen Euro). Davon entfallen 85 % auf die reichsten Länder, in denen der größere Teil der Ausgaben durch staatlich finanzierte Krankenversicherungen abgedeckt wird. Der private Sektor ist in seinem Bestreben die Profite auszubauen, darauf aus, einen größeren Teil dieses Gesundheitsbudgets unter seine Kontrolle zu bringen. Dies gilt insbesondere für Europa.

Der Prozess der Privatisierungen im Gesundheitsbereich nahm bisher aufgrund der politischen Hindernisse jedoch einen speziellen Verlauf. Denn die Regierungen, die die Gesundheitssysteme, die bisher für eine nahezu universelle Gesundheitsversorgung – im Allgemeinen mit niedriger Kostenbeteiligung der PatientInnen – aufkamen, zerschlagen und privatisieren wollen, werden schnell unpopulär. Der Prozess der Privatisierung der Gesundheitssysteme in Großbritannien und in anderen Ländern, wo in den 1980er Jahren ganze Bereiche, wie die Gasversorgung und das Fernmeldewesen an Aktionäre verkauft und in profitorientierte Unternehmen verwandelt wurden, macht diese Widersprüche deutlich.

Und dies aus drei Gründen: Der erste liegt in der Tatsache, dass sich politische Parteien, die sich von den neoliberalen Parteien à la Thatcherismus der 1980er Jahre abheben wollen, auf diesem heiklen Thema nicht zu weit exponieren dürfen. Dies vor allem in einem politischen Klima, in dem es wenige Sympathien für die Privatwirtschaft und die Privatisierung gibt.

Zweitens hat die Privatwirtschaft selbst nur ein beschränktes Interesse daran, den gesamten Gesundheitssektor zu übernehmen: Sie konzentriert sich in ihrer Rosinenpickerei auf die Übernahme von profitträchtigen Bereichen, insbesondere auf die unkomplizierte elektive1 Chirurgie – den Hauptpfeiler der privaten Medizin weltweit. In Großbritannien zeigten die privaten Firmen wenig Interesse, die Bereiche der Unfall- und Notfallmedizin, komplexe und risikobehaftete Operationen oder die Pflege von chronisch kranken Betagten und die gemeinnützige Arbeit irgendwelcher Art zu übernehmen.

Und schlussendlich sind die Leistungsmöglichkeiten des privaten Sektors beschränkt. Die Gesundheitssysteme sind heute viel umfangreicher als in den 1980er Jahren. Die private Gesundheitsindustrie konzentriert sich jedoch auf kleine Krankenhäuser und die Bedienung einer kleinen, wohlhabenden Minderheit. Sie verfügt bei weitem nicht über die finanziellen und organisatorischen Mittel, um an eine Übernahme des gesamten Gesundheitssektors denken zu können.

Die Privatisierung unter Thatcher

In England begann der Prozess der Privatisierung Mitte der 1980er Jahre unter der Regierung von M. Thatcher, mit der Veräußerung von außerklinischen Teilen des Krankenhausbereiches wie der Reinigung, der Anlieferung von Speisen und Getränken und den Pförtnerdiensten an den meistbietenden Anbieter. Mit dem Ergebnis, dass eine ganze Reihe von kleineren, unerfahrenen privaten Firmen aufgetreten sind. In einem Umfeld von arbeitsintensiver und im Allgemeinen schlecht bezahlter Arbeit versuchten diese Firmen, die existierenden Kosten zu unterbieten, um Verträge an Land zu ziehen und gleichzeitig Profit zu machen, indem sie weniger Personal einstellten, dieses härter arbeiten ließen und den Lohnabhängigen schlechtere Bezahlung und Arbeitsbedingungen anboten. Dies führte wiederum in einem Großteil Großbritanniens zu einer praktischen Prekarisierung bei den Reinigungsdiensten und untergrub die Personalausstattungen und die Standards in der Reinigung und in der Hygiene. Dies galt sogar für diejenigen Krankenhäuser, die die Reinigung nicht an auswärtige Firmen vergaben; denn deren Manager waren verpflichtet worden, mit den niedrigen Standards und den niedrigen Löhnen des privaten Sektors zu konkurrieren.

Noch eine Generation später wird das Nationale Gesundheitssystem (National Health Service, NHS) in weiten Teilen Großbritanniens, vor allem Englands, wo die wenigsten dieser Privatisierungen rückgängig gemacht wurden, von den Folgen dieser Privatisierung heimgesucht. Die im Krankenhaus zugezogenen Infektionen, schlechte Standards, schlechte Arbeitsmoral und Lücken im Personalbestand schaffen weiterhin Probleme und belasten das Pflegepersonal und andere Angestellte, die eigentlich andere Aufgaben hätten, mit zusätzlicher Arbeit, die eigentlich durch die Privatfirmen erledigt werden müssten.

Die Privatisierungen im Bereich der außerklinischen Dienstleistungen waren in Großbritannien verbunden mit massiven Ausgabenkürzungen im öffentlichen Sektor. Dies trieb die Wartelisten und -zeiten in die Höhe. Die Absicht der Thatcher-Regierung war, damit mehr Leute dazu zu bringen, für private Krankenversicherungen zu bezahlen. Trotz dieses Druckes decken die privaten Krankenversicherungen nur eine kleine Minderheit – weniger als ein Achtel – der Bevölkerung Großbritanniens ab. In Wales, Schottland und Nordirland liegt dieser Wert noch viel niedriger.

1989 veröffentlichte die Thatcher- Regierung ein Weißbuch unter dem Titel „Working for Patients“ (Im Dienste der Patienten), das das Programm für die Schaffung eines internen Marktes und die Einführung des Wettbewerbs zwischen NHS-Anbietern um einen Vertrag mit dem NHS festlegte. Dieser Markt brachte eine Spaltung zwischen den „Käufern“ und den „Anbietern“ von NHS-Dienstleistungen und auch eine Spaltung unter den AllgemeinmedizinerInnen (AGM): Zwischen einerseits den VertragspartnerInnen mit einem entsprechenden Zugriff auf die vertraglichen Mittel, um sich für das günstigste Angebot für ihre PatientInnen umschauen zu können und, andererseits, den anderen AGMs, deren PatientInnen an Mengenverträge gebunden sind, die durch die lokalen Gesundheitsbehörden ausgehandelt wurden. Diese Spaltung brachte ihrerseits einen sehr großen Zuwachs an Verwaltung und an bürokratischen Kosten mit sich und lenkte so die Mittel weg von der eigentlichen Patientenbetreuung. Aber durch sie lebte auch die Vorstellung neu auf, dass das Gesundheitswesen eher eine Form von Geldübertragung als eine öffentliche Dienstleistung sei. Es war der erste Schritt, das Gesundheitswesen erneut der Warenform zu unterwerfen, nachdem es in den umfassenden Reformen von 1948 als NHS, weitgehend aus dem Marktzusammenhang herausgelöst worden war.

Das Weißbuch von 1989 leitete gleichzeitig die Privatisierung eines wachsenden Teils der durch die lokalen Regierungen erbrachten sozialen Dienstleistung ein. Der Grund für dieses zunehmende Engagement der lokalen Regierungen liegt darin, dass die durch das NHS erbrachten Leistungen seit 1948 mit Steuern finanziert wurden und für alle PatientInnen kostenlos waren, während die durch die Kommunen geführten sozialen Dienste den BenutzerInnen immer bedarfsabhängig belastet wurden. Diese Privatisierung öffnete der Schließung von Zehntausenden von Betten für die Spezialpflege in NHS-Krankenhäusern Tür und Tor: Diese waren von der Öffentlichkeit für ältere Menschen zur Verfügung gestellt worden. Ebenfalls wurden Zehntausende von Plätzen in gemeindeeigenen Pflegeheimen geschlossen, da die Gemeindebehörden gezwungen waren, über 70 % des zur Verfügung stehenden Geldes für die Pflegefinanzierung im privaten Sektor zu verwenden. In der Folge dehnte sich der von profitorientierten Firmen geführte private Heimpflegedienst schnell aus. Diese Entwicklung wurde mehrfach begünstigt: Erstens durch Verträge mit lokalen Behörden, zweitens durch eine Finanzierung mit öffentlichen Geldern und drittens durch die Abwälzung der Kosten auf die einzelnen PatientInnen. Diese Änderungen wurden 1993, nach allgemeinen Wahlen, eingeleitet. Im ersten Jahr waren nach einer Schätzung der Financial Times über 40 000 Leute gezwungen, ihr Eigenheim zu verkaufen, um für die Pflegekosten unter diesem neuen System aufkommen zu können.

Die verdeckte Privatisierung unter New Labour

1997 errang Tony Blair seinen berühmten Wahlsieg über die Konservativen. Er versprach, das NHS zu retten und den „kostspieligen und bürokratischen internen Markt“ im Gesundheitswesen „wegzufegen“. Aber während es zu einer gewissen Neustrukturierung und zu der Abschaffung des Vertragssystems für AGMs gekommen war, behielt New Labour diese Spaltung zwischen Käufern und Anbietern bei. Damit wurden die Grundlagen für ein neues, sogar noch stärker wettbewerborientiertes Gesundheitssystem beibehalten und die NHS-Krankenhäuser wurden in einen einseitigen Wettbewerb mit den privaten Krankenhäusern gezwungen – etwas, das die Thatcher-Regierung nie gewagt hatte.

2000, nachdem die Regierung unter Tony Blair die Austeritätspolitik der Konservativen weitergeführt hatte, trat sie mit einem neuen NHS-Plan hervor, in dem über zehn Jahre hinweg die Ausgaben kontinuierlich erhöht werden sollten; davon sollte ein wachsender Anteil den privaten Anbietern zugutekommen. Die Regierung hatte bereits damit begonnen, Abkommen für die Finanzierung des Baus von Krankenhäusern mittels der „Private Finance Initiative“ (Initiative zur privaten Finanzierung, PFI) zu unterzeichnen. Dies ist eine äußerst teure Finanzierungsart für neue Gebäude, mit hohen Zinsen und Profiten für den privaten Sektor für die nächsten 25, 30 oder mehr Jahre. Im Jahre 2011 gibt es einige PFI-Krankenhäuser aus der ersten Welle, die bereits zwei- bis dreimal die Kapitalkosten für deren neuen Gebäude bezahlt haben und noch weitere 20 bis 30 Jahre bezahlen müssen.2 Und dies, während die Kosten der sogenannten „unitary charge“ (Einheits- Gebühr) im PFI-Vertrag sie dazu zwingt, Ausgabenkürzungen vorzunehmen, Betten und Abteilungen zu schließen und Pflegepersonal zu entlassen. Gegenwärtig wurden bis jetzt für ca. 11 Mrd. £ (ungefähr 12,5 Mrd. Euro) neue Krankenhäuser gebaut oder neue PFI-Verträge unterzeichnet. Dies bedeutet für das NHS bis 2045 insgesamt Nettokosten von 64 Mrd. £ (ungefähr 73 Mrd. Euro).

Im Jahre 2000 wurde durch den Gesundheitsminister Alan Milburn das erste Konkordat mit den privaten Krankenhäusern unterzeichnet: Aufgrund dieser Vereinbarung sollen NHSKrankenhäuser für die Behandlung ihrer PatientInnen in privaten Krankenhäusern bezahlen, angeblich um die Wartelisten in Zeiten hohen Andrangs, z. B. zur Winterszeit, zu entlasten. Das Ergebnis dieser Maßnahme ist, dass die Kosten für diese hauptsächlich risikoarmen und routinemäßigen Behandlungen viel höher ausgefallen sind, als wenn sie in NHS-Krankenhäusern ausgeführt worden wären.

2003 wurde durch die Regierung von New Labour ein Gesetz durchgepeitscht, um unter dem Namen „NHSFoundation Trusts“ (Treuhänderische autonomen Krankenhausorganisationen zu schaffen. Diese sollen außerhalb der Verwaltungs- und Verantwortungsstrukturen des NHS angesiedelt sein. Lokale Abgeordnete konnten fortan im Parlament keine Fragen mehr zu den lokalen Krankenhäusern stellen, sofern diese in Stiftungen umgewandelt worden waren. Diese Stiftungen sind die am besten ausgestatteten und leistungsfähigsten Krankenhäuser und sie konnten fortan über die Profite aus ihrer Tätigkeit frei verfügen, ungeachtet der finanziellen Probleme, denen andere Anbieter und Dienstleistungen im Gesundheitswesen der betreffenden Gemeinden gegenüberstehen. Diese umstrittene Politik kam im Unterhaus nur sehr knapp mit einer Mehrheit von gerade mal 17 Stimmen durch. Eines der Eingeständnisse, die die Regierung machen musste, um der Vorlage genügend Stimmen zu sichern war, dass diesen Stiftungen strenge Grenzen hinsichtlich der erlaubten Profite aus der privaten medizinischen Versorgung und der Behandlung von PrivatpatientInnen auferlegt wurde. Bezeichnenderweise besteht einer der umstrittenen Punkte der von der gegenwärtigen konservativen Regierung vorgeschlagenen „Reform“ darin, diese Höchstgrenze der Profite zu beseitigen, die diese Stiftungen aus der privaten medizinischen Versorgung ziehen können. Dies spornt tatsächlich die Schaffung von Elite- NHS-Stiftungen in London und in anderen großen Städten an, nicht um sich um die öffentlich finanzierten NHSPatientInnen zu kümmern, sondern um aus Großbritannien und der ganzen Welt vermögende und zahlende Kunden anzulocken.

Sehr wichtig für den NHS-Plan war ebenfalls die Hinzuziehung von ausländischen, profitorientierten privaten Krankenhausketten, um neue unabhängige und spezialisierte Behandlungszentren (independent sector treatment centres, ISTCs) zu schaffen, die einfache elektive Eingriffe, fast ausschließlich auf der Basis von Tagespflege, vornehmen. Diese Verträge sahen von der Regierung Vorauszahlungen für den Anreiz vor, um diese Firmen zu einer Beteiligung und zu Investitionen in Großbritannien zu ermutigen. Diese Verträge sahen ebenfalls um durchschnittlich 11 % über dem NHS-Standard liegende Tarife für alle durch die ISTCs durchgeführten Eingriffe vor, obwohl alle ernsthaften und komplizierten Fälle weiterhin durch das NHS und nur die geringfügigen Fälle durch Privatklinken behandelt wurden. Diese durch die BürokratInnen des Department of Health (Gesundheitsministerium) zentral ausgehandelten Verträge waren auch diesbezüglich bemerkenswert, als dass sie zum Vorneherein die Bezahlung für eine feste Anzahl von PatientInnen garantierten, und zwar unabhängig von der Anzahl PatientInnen, die sich überzeugen ließen, sich in einem ISTC statt in einem ihrer lokalen NHS-Krankenhäuser behandeln zu lassen. In vielen Fällen erwies es sich als schwierig, genügend PatientInnen zu überzeugen, diese neuen Zentren zu benutzen. Im Ergebnis wurden unter diesem Vertrag für viele Tausende von Operationen Dutzende Millionen Pfund bezahlt, ohne dass sie jedoch durchgeführt worden wären.

In einer zweiten Welle dieser Verträge wurde die Behauptung, dass sie Zusatzkapazitäten für den Abbau der Wartezeiten bereitstellen würden, denn auch fallengelassen. Die Minister begannen vielmehr offen zu erklären, dass sie dazu dienten, für den Wettbewerb unter den NHS-Anbietern zu sorgen; einige Minister behaupteten sogar, dass sie die NHS-Anbieter destabilisieren wollten, damit sie ihre Dienstleistungen verbesserten. Der Wettbewerb war jedoch sehr einseitig, da die Verträge für ISTCs nicht für alle NHS-Anbieter offen waren. Vielmehr wurde der Wettbewerb nur einigen privaten Anbietern überlassen, die sich so über eine fünfjährige Vertragsperiode die garantierten Profite sichern konnten. Anders ausgedrückt wurde mit diesen Maßnahmen dafür gesorgt, dass von den existierenden NHS-Anbietern Geld genommen wurde, um damit den Aufbau eines neuen privaten Sektors zu subventionieren, für den es weder einen Markt noch eine Existenzberechtigung gab, abgesehen von der Unterstützung durch die Regierung.

Jedes Mal, wenn die Regierung von New Labour kritisiert wurde, dass sie durch die Hinzuziehung von privaten Anbietern eine allmähliche Privatisierung der öffentlichen Dienste betreibe, antworteten die Minister, dass es gar keine Privatisierung gebe, da die NHSDienstleistungen weiterhin frei zugänglich bleiben würden. Interessanterweise wird neuerdings von der von den Konservativen angeführten Koalitionsregierung genau dasselbe Argument vorgebracht, um ihre noch weiter gehende Privatisierung der Gesundheitsversorgung zu verteidigen.

Im Jahre 2005 erließ der Leiter des NHS eine Direktive mit dem Titel „Commissioning a Patient led NHS“ (Auftrag für ein NHS unter der Leitung der PatientInnen), ein weiterer Schritt in der beabsichtigten Zerschlagung der Strukturen des NHS. Der zentrale Begriff hier ist „Leitung”: Der ganze Vorschlag zielt auf die Schaffung eines neuen wettbewerbsorientierten Marktes ab, insbesondere auf die Durchtrennung der organischen Verbindungen zwischen den Gesundheitsdiensten auf Gemeindeebene und den nationalen Diensten hinsichtlich der medizinischen Grundversorgung. Damit sollten diese Dienste dem Wettbewerb geöffnet und deren möglicher Übernahme durch „soziale Unternehmen“ der Weg bereitet werden. Dabei muss betont werden, dass die sozialen Unternehmen außerhalb des NHS angesiedelt sind. Es ging also darum, die lokalen Gesundheitsdienste mit einem jährlichen Budget von insgesamt über 10 Mrd. £ (etwas über 11 Mrd. Euro) für den Wettbewerb zu öffnen und so deren Privatisierung voranzutreiben und die allein in England bis zu 250 000 Lohnabhängigen in diesem Sektor zu gefährden. Diese Vorschläge waren 2005 heftig umstritten und lösten einen politischen Streit und mehrere Rücktritte von Ministern aus. 2006 konzentrierte man sich eher auf Ausgabenkürzungen, die die lokalen Gesundheitsverantwortlichen in ganz England verschiedenen Gesundheitsdiensten aufgezwungen hatten, um die Defizite auszugleichen. In vielen Fällen konnten angedrohte Krankenhausschließungen durch lautstarke Kampagnen des „traditionellen Englands“ erfolgreich abgewehrt werden.

Aber die Regierung beharrte auf ihrer Absicht, das NHS zu restrukturieren und immer mehr private Anbieter beizuziehen, die mit NHS-Mitteln bezahlt werden sollten. 2009 wurde ein weiterer Versuch unternommen, bestimmte Gemeindedienste für, wie es hieß, „jeden willigen Anbieter“ zu öffnen, seien dies nun nicht-profitorientierte „soziale Unternehmen“ oder multinationale Firmen. Gleichzeitig wurden die Verträge für AGMs veröffentlicht und für private Firmen ausgeschrieben; mittlerweile sind Dutzende von solchen Verträgen im Besitz von multinationalen Firmen und von mittleren Unternehmen. Es wurde auch immer klarer, dass sich hinter den Kulissen der private Sektor in der Bereitstellung von Psychiatriepflegeplätzen breit machte und so eine Lücke in der Versorgung durch das NHS zu viel höheren Kosten füllt: Um 2009 kosteten die Psychiatriepflegeplätze das NHS jährlich über 800 Mio. £ (etwas über 900 Mio. Euro)

Der Versuch, die privaten Anbieter durch Übernahmen an den lokalen Gesundheitsdiensten zu beteiligen, einem Bereich an dem sie vorher kaum Interesse gezeigt hatten, war an die Einrichtung eines neuen „Gremiums für Zusammenarbeit und Wettbewerb“ (Cooperation and Competition Panel) gekoppelt. Dieses sollte als Beschwerdeinstanz fungieren, die durch die geschädigten privaten Anbieter angerufen werden konnte, sofern sie sich unberechtigterweise aus dem Angebotswettbewerb in einem bestimmten Sektor ausgeschlossen fühlten. Ebenso wurde hinter den Kulissen durch die mit der Labour Partei verbundenen großen Gewerkschaften starker Druck in die andere Richtung ausgeübt. Diese machten klar, dass sie nicht bereit wären, diese Politik mitzutragen und dass die Verbindung zu den Gewerkschaften gefährdet sei, sofern das NHS nicht bevorzugt behandelt würde.

Gegen Ende von 2009 kündigte der Gesundheitsminister Andy Burnham einen Rückzug aus der Politik des „jeder willige Anbieter“ an und unterwies die Beauftragten in den lokalen Gesundheitsdiensten, dass das öffentliche NHS als bevorzugter Anbieter von Gesundheitsdiensten zu behandeln sei, außer im Falle von erdrückenden Gegenargumenten. Die Unternehmer des Privatsektors waren aufgebracht. Anfang 2010 wurde das „Gremium für Zusammenarbeit und Wettbewerb“ durch die Vertretung von freiwilligen Organisationen, die sich mit anderen privaten Anbietern zusammengetan hatten, angegangen. Sie beklagten sich, dass einige Dienstleitungen in Ostengland bevorzugt an NHS-Anbieter anstatt an „jeden willigen Anbieter“ vergeben würden. Sie verlangten, dass die Politik von Andy Burnham fallengelassen würde. Überraschenderweise stellte sich Gordon Brown auf die Seite von Burnham, und die Politik wurde bis zu den allgemeinen Wahlen vom Mai 2010 unverändert weitergeführt.

Die Konservativen gehen zum offenen Angriff über …

Die neue konservative Koalitionsregierung veröffentlichte im Juli 2010 ein neues Weißbuch, welches auf die Zerschlagung des NHS und auf dessen Ersetzung durch einen Fonds aus Steuergeldern abzielte, mit dem die Dienstleistungen von einem weiten Spektrum von weitgehend privatisierten Anbietern eingekauft werden sollten. Mit der allerersten sich aus dem Weißbuch ergebenden Bestimmung im Gesetzesentwurf wird der Auftrag des Staatssekretärs abgeschafft, den kostenlosen Zugang zu einer umfassenden und universellen Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Er wird fortan nicht mehr gegenüber dem Parlament verantwortlich sein; ein neuer Aufsichtsrat ohne öffentliche Rechenschaftspflicht wird die Aufträge überwachen. Wenn der Gesetzesentwurf angenommen wird, werden alle lokalen Verwaltungsstrukturen des NHS abgeschafft: Gegenwärtig wird das NHS durch 150 Gesundheitsverwaltungen (Primary Care Trusts, PCTs) geführt, die über ein Auftragsbudget von 80 Mrd. £ (etwas über 90 Mrd. Euro) verfügen, um die Gesundheitsleistungen für ihre lokale Bevölkerung einzukaufen. Die PCTs werden ihrerseits von 10 strategischen Gesundheitsbehörden (Strategic Health Authorities) geführt. Diese sind ebenfalls für die Ausbildung des medizinischen Personals und der Pflegekräfte verantwortlich. Diese Strukturen sollen beseitigt werden.

Der Gesetzesentwurf schlägt vor, dass ein Auftragsbudget von 80 Mrd. £ den lokalen Arbeitsgemeinschaften von AGMs überlassen wird, die eigenständig über die Verwendung des Geldes entscheiden. Im Gesetzesentwurf sind keine bestimmten Anforderungen hinsichtlich der Abdeckung der Bevölkerung durch die Arbeitsgemeinschaften und von deren organisatorischer Struktur enthalten, wie auch jede Vorschrift bezüglich der öffentlichen Beteiligung oder derjenigen von Nicht-MedizinerInnen fehlt. Vielmehr schließt der Gesetzesentwurf ausdrücklich KrankenhausärztInnen und –pflegepersonal gleich welcher Stufe und alle Fachpersonen des Gesundheitswesens von jeder spezifischen Rolle in dieser neuen Managementstruktur aus.

AGMs haben über die vergangenen Jahre in der Verwaltung von Budgets, wie auch in der Erzielung der von den Konservativen gerade durch diese Reformen erhofften Vorteile für die PatientInnen eher schlecht abgeschnitten. So waren in den 1990er Jahren, als die AGMs über Millionen-Budgets verfügten, die lokalen Krankenhäuser, Psychiatrien und andere Gesundheitseinrichtungen mit größeren finanziellen Problemen konfrontiert. Neuerdings haben die Experimente mit der „praxisbasierten Auftragsvergabe“ gezeigt, dass beinahe alle allgemeinmedizinischen Praxen Mühe hatten, mit ihren Budgets zurecht zu kommen und diese oft überschritten haben; und dies selbst in Bereichen, wo diese Experimente als Beispiele des Erfolges hochgepriesen wurden. Ferner sind die AGMs typischerweise nicht als Manager ausgebildet. Nur in wenigen Fällen haben sie die Zeit, den Willen oder die Energie, sich selbst um diese Auftragsvergabe zu kümmern. Stattdessen werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit diese Aufgabe an spezialisierte Teams delegieren, die sie entweder einstellen oder die dann extern als private Berater arbeiten; viele von diesen bringen sich bereits in Position, um von den AGMs fette Verträge für die Verwaltung von Auftragsbudgets zu ergattern.

Ein anderer wichtiger Teil des Weißbuches und des Gesetzesvorschlags ist der Antrag, alle klinischen Leistungen – nicht nur die gemeindebasierten Gesundheitsdienste, und nicht nur die elektiven Eingriffe wie in den ISTCs – für alle „willigen Anbieter“ zu öffnen, seien diese nun profitorientiert oder nicht. Die Liste der willigen Anbieter darf fortan nicht mehr durch die AGMs und ihre Arbeitsgemeinschaften geführt werden, sondern soll im nationalen Rahmen durch Monitor geführt werden, den gegenwärtigen Regulator der öffentlichen Stiftungen, der als Regulator aller finanziellen Angelegenheiten des NHS vorgesehen ist. Alle NHS-Krankenhäuser, die – hauptsächlich als Folge von finanziellen Problemen – momentan nicht öffentliche Stiftungen sind, müssen gemäß Gesetzesvorschlag bis 2014 öffentliche Stiftungen werden, aufgeteilt oder dann durch öffentliche Stiftungen übernommen werden.

Der Gesundheitsminister Andrew Lansley machte sein persönliches Ziel klar: Er will noch weiter gehen und alle öffentlichen Stiftungen sobald wie möglich aus der Bilanz des NHS entfernen – und sie in soziale Unternehmen überführen. Das bedeutet, dass die Angestellten von öffentlichen Stiftungen, die vorderhand noch bei dem NHS angestellt sind, ihre NHS-spezifischen Arbeitsbedingungen, Lohnskalen, Ausbildungsmöglichkeiten, Pensionen und Rechte verlieren werden. Die ungefähr 1 Million NHS –Angestellten in England werden auf ungefähr eine Hand voll reduziert werden und die Gesundheitsversorgung wird nicht mehr durch NHS-Institutionen, sondern durch öffentliche Stiftungen, andere soziale Unternehmen oder durch profitorientierte Unternehmen erbracht werden. Dabei muss betont werden, dass diese Veränderungen im Zusammenhang eines Effizienzsteigerungsprogrammes mit geschätzten Einsparungen von 20 Mio. £ (gegen 23 Mio. Euro) bis 2014 steht: Dieses Vorhaben steht so im ersten Abschnitt des Weißbuches von Andrew Lansley vom Juli 2010 und führte mittlerweile im ganzen Land zu einem Prozess von Stellenabbau, Sparmaßnahmen und Schließungen.

Dies lässt es umso weniger einleuchtend erscheinen, dass die Überantwortung des 80 Milliarden Budgets an die Arbeitsgemeinschaften der AGMs diese zu nichts anderem als zu Rationierungs-Behörden werden lässt, die darüber entscheiden, welche Leistungen gekürzt oder den lokalen PatientInnen vorenthalten werden, um ausgeglichene Budgets zu haben. Monitor gab neulich eine Warnung heraus, dass in Tat und Wahrheit ein größeres Sparpotential vorhanden sei, und dass das Ziel für Einsparungen bis 2014 sogar bei 30 Mrd. £ liegen könne.

…. und zögern

Der Gesetzesentwurf wurde immer umstrittener, weil seine Hintergründe und der Inhalt auch denjenigen klar wurde, die anfänglich durch seine trügerische Rhetorik oder durch seine Komplexität verwirrt wurden; er umfasst immerhin 360 Seiten, viel mehr als die Gesetze, die 1948 zur Einrichtung des NHS führten, und mehr als alle bisherigen Gesetze zum Gesundheitswesen.

In ihrer Konferenz vom Frühjahr hat die Liberaldemokratische Partei, die den Gesetzesvorschlag durch alle Stadien im Unterhaus unterstützte, plötzlich grundsätzliche Mängel festgestellt und forderte eine Reihe weitreichender Korrekturen. Die Partei und ihr Führer, Nick Clegg, haben in den lokalen Wahlen vom 5. Mai 2011 eine schmerzliche Niederlage erlitten und haben ihre Rhetorik in der Folge verschärft. Sie wollten sich mit ihrer NHS-Politik als unabhängige und standfeste Kraft innerhalb der Koalition profilieren.

All dies darf nicht auf die Goldwaage gelegt werden, aber es deutet doch auf das wachsende Unbehagen hin, das sich in allen Berufsvereinigungen im Umfeld der Gesundheitsversorgung breitmacht, allen voran dem Royal College of General Practitioners (Königliches Kollegium der AGMs: www.rcgp.org.uk/), die British Medical Association (Britische medizinische Vereinigung: www.bma.org. uk/), viele hochrangige, auch rechtsstehende, Denkfabriken, Parlamentsausschüsse, die Gewerkschaften und die breitere Öffentlichkeit. Es ist sehr wohl möglich, dass David Cameron eher seinen Gesundheitsminister aus der Regierung entlassen wird, als dass er die Aussicht auf einen größeren politischen Schaden für das durch ihn aufpolierte Image der Konservativen in Kauf nimmt. Unglücklicherweise ist diese Regierungskrise nicht das Ergebnis des Druckes der Gewerkschaften oder der Labour-Opposition oder irgendwelcher erhöhter politischer Aktivität. Vielmehr spiegelt sie die politischen Schwierigkeiten der rechten Regierungsparteien in Europa wider, sobald sie die umfassende und universelle Gesundheitsversorgung zerschlagen und die Einfallstore für den privaten Profit öffnen wollen.

Die Aufgabe der AktivistInnen besteht darin, den Druck bis zum vollständigen Rückzug des Gesetzesentwurfs aufrechtzuerhalten und die Kampagne gegen die Abbaumaßnahmen weiterzuführen; diese haben dem Gesundheitswesen großen Schaden beigefügt und führen in vielen Bereichen zu einer wachsenden Liste von Behandlungen, die durch das NHS nicht mehr abgedeckt werden.

Organisationen wie Keep Our NHS Public (www.keepournhspublic.com/ index.php) werden weiterhin versuchen, eine wichtige Rolle zu spielen bei der Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung des ideologischen Kampfes gegen diejenigen, die behaupten, dass es ganz und gar unwichtig wäre, ob die Leistungen öffentlich oder privat erbracht würden.

John Lister ist Medizinjournalist und leitet die Vereinigung Health Emergency (Notfall Gesundheitswesen: www.healthemergency.org. uk). Er ist einer der Gründer der Kampagne Keep Our NHS Public (Für die Aufrechterhaltung eines öffentlichen NHS: www.keepournhspublic. com). Er hat diverse Bücher zu diesem Thema verfasst, darunter Health Policy Reform (2011). Der Artikel wurde aus dem Englischen übersetzt; die Zwischentitel und die Fußnote wurden der französischen Version entnommen, die in inprecor Nr. 573/574, Mai/ Juni 2011 erschienen ist.

Übersetzung: Willi Eberle