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Frankreich: Gegen den Sozialabbau
im Gesundheitswesen!

Jean-Claude Laumonier - aus Inprekorr Nr. 5/2011, September/Oktober


In Frankreich wie in den anderen europäischen Ländern stehen Renten- und Gesundheitswesen im Visier der neoliberalen „Reformer“, die seit Ende der 70er Jahre in den Regierungen jeder Couleur am Werke sind. Durch die gegenwärtige Krise des Kapitalismus, die die herrschenden Klassen auf den Rücken der Lohnabhängigen und kleinen Leute abwälzen wollen, nehmen diese Angriffe weiter zu.

Seit 2002 hagelt es „Reformen“, die Renten, Krankenversicherung und Krankenhäuser betreffen, und in diesem Jahr steht zusätzlich die Pflegeversicherung auf der Agenda der französischen Regierung.

Der Online-Informationsdienst Mediapart veröffentlichte ein internes Papier des französischen Unternehmerverbandes MEDEF, der auf „tiefgreifende Strukturreformen“ bei der Pflegeversorgung dringt. „Die Alterung der Gesellschaft darf nicht länger ignoriert werden“, schreiben die Autoren und legen eine detaillierte Agenda vor.

Was sind die Ziele dieser Reformen und was wollen wir dagegen setzen?

I. Die Ziele der Gegenreform

Nach dem II. Weltkrieg wurde in Frankreich aufgrund der Kräfteverhältnisse zugunsten der Lohnabhängigen ein Versorgungssystem errichtet, das im Grundsatz allen den Zugang zu qualifizierter Hilfe ermöglichte. Während des Wirtschaftsaufschwungs in den 30 Folgejahren wurde das System weiter ausgebaut. Die beiden tragenden Säulen waren die Krankenversicherung als Teil der Sozialversicherung, wodurch die Gesundheitsversorgung nach dem Solidarprinzip durch Sozialbeiträge (sozialisierter Lohnanteil) finanziert wurde, und die öffentlichen Krankenhäuser, die eine qualifizierte Versorgung für alle ermöglichten.

Damit wurde das Prinzip der Fürsorge für die Ärmsten – ergänzt um Versicherungen für diejenigen, die sich dies leisten konnten – durch ein System abgelöst, das „allen den Zugang zur besten Versorgung“ gewährleistete.

Natürlich wurde dieses Prinzip niemals uneingeschränkt umgesetzt oder von der herrschenden Klasse akzeptiert, die immer dagegen anlief, da es der Logik einer auf den Gesetzen des Marktes und des Profits gründenden Gesellschaft zuwiderlief. Denn:

  1. werden die Sozialabgaben, die als indirekter Lohn zum direkten hinzukommen, von den Unternehmern als unerträgliche Last empfunden, da es ihnen darum geht, den „Lohnanteil“ am geschaffenen Reichtum zu mindern, um den Profit zu mehren. Und
  2. nimmt der sozialisierte Lohn eine Gesellschaft vorweg, in der die Bedürfnisse aus dem geschaffenen Reichtum heraus befriedigt werden und nicht entlang der individuellen finanziellen Möglichkeiten des Einzelnen (Jedem nach seinen Bedürfnissen und nicht nach seinen Mitteln).

Ursprünglich wurde die Sozialversicherung mehrheitlich von den gewählten Vertretern der Lohnabhängigen verwaltet und nicht durch den Staat, was seit jeher infrage gestellt wurde.

Seit der neoliberalen Wende Ende der 70er Jahre haben sich unter allen Regierungen die Vorstöße zu einer Gegenreform verschärft. Seit 2002 wird das gesamte Gesundheitssystem zunehmend unverhüllt infrage gestellt – angeblich mit dem Ziel, es zu retten – und die Rückkehr zum Prinzip der Fürsorge und komplementären Versicherung angestrebt, mithin also zu einem Mehrklassensystem, in dem die Versorgung entlang der verfügbaren Mittel und nicht der Bedürfnisse erfolgt. Dieser Rückschritt sorgt zudem für zunehmende Kommerzialisierung und den Vormarsch der privaten Versicherungen und Krankenhauskonzerne.

Das Haupthindernis für diese Gegenreformen liegt darin, dass der überwiegende Teil der Bevölkerung hinter diesem Gesundheitssystem steht und es trotz aller zwischenzeitlichen Einschnitte und Verschlechterungen weiterhin als verteidigenswerte Errungenschaft betrachtet. Zwischen Unternehmern und neoliberalen Politikern aller Couleur herrscht Konsens, wenn es um die Rechtfertigung der Gegenreform geht. Das Credo lautet, dass die Kosten für das Gesundheitswesen in den Griff bekommen werden müssten, da diese unaufhörlich steigen und ein immer größeres „Loch“ in das Sozialversicherungswesen reißen würden. Am Ende wäre ansonsten „unser ganzes“ soziales Sicherungsmodell ruiniert.

Dieses ideologische Konstrukt will glauben machen, dass das sogenannte „Defizit“ eine unumstößliche wirtschaftliche Realität sei und nicht die Folge politischer Entscheidungen. In Wahrheit liegt das Problem – wie auch bei der Rente – in der Verteilung des Reichtums. Das Ziel der Gegenreformen besteht trotzdem nicht in der Senkung der Ausgaben im Gesundheitswesen. Stattdessen geht es um die weitere Öffnung für die Marktwirtschaft, die Versicherungsgesellschaften und die privaten Krankenhauskonzerne, was bis dato durch die öffentliche und solidarische Finanzierung (Krankenkassen) und den Bestand als öffentlicher Dienst zum Betrieb der Gesundheitsversorgung (öffentliche Krankenhäuser) begrenzt worden ist. (…) Beim Abbau der gesamtgesellschaftlichen Finanzierung sollen die Unternehmer nahezu komplett entlastet und die Lohnabhängigen via Steuer zur Kasse gebeten werden.

Der von den Sozialversicherungseinrichtungen finanzierte Anteil der Gesundheitsversorgung ist zwar rückläufig, lag aber 2009 noch immer bei 75,5 %, während die (privaten oder genossenschaftlichen) Zusatzversorgungen für 13,8 % – darunter die Privatversicherungen gar nur für 3,6 % – aufkamen.

Gleichermaßen soll der Stellenwert der öffentlichen Krankenhäuser, die mit 60 Mrd. Umsatz gegenüber 18 Mrd. bei den Privatkliniken noch deutlich überwiegen, sinken, um den Privatbetreibern von Krankenhäusern und Altenheimen („graues Gold“ in der Aktionärssprache) den Weg zu ebnen.

Zusammengefasst lauten die Ziele der Gegenreform:

  1. Der Anteil der sozialisierten Ausgaben im Gesundheitswesen (Krankenkassen) soll auf eine Minimalversorgung „für die Bedürftigen“ und die Finanzierung „nicht versicherungsfähiger“ Risiken reduziert werden – somit auf das, was vom kapitalistischen Standpunkt aus unrentabel ist.
  2. Diese Ausgaben sollen durch rigide Kontrollmechanismen zu Lasten der Schwächsten begrenzt werden.
  3. Die Unternehmer sollen von der Finanzierung des sozialisierten Lohnanteils ausgenommen werden, indem die Sozialbeiträge drastisch gesenkt und die Ausgaben via Steuer auf die Lohnabhängigen überwälzt werden.
  4. Die Finanzierung nach dem Solidarprinzip soll durch das Individualprinzip (Selbstbeteiligung) oder durch eine (genossenschaftliche oder private) Zusatzversicherung zulasten des Versicherten ersetzt werden.
  5. Auf diese Zusatzversicherungen sollen die „rentablen“ Segmente der Gesundheitsversorgung entfallen, d. h. besonders die gängigen Leistungen mit „geringem Risiko“, während die „schweren Risiken“, die aufwändigen Fälle und kostenintensiven chronischen Erkrankungen weiterhin bei der obligatorischen Versicherung verbleiben sollen.
  6. Der Stellenwert der öffentlichen Krankenhäuser soll sinken, indem ihnen die unrentablen Leistungen (aufwendige und komplizierte Fälle, teure und riskante Eingriffe) und die Versorgung der Minderbemittelten aufgebürdet werden.
  7. Die logistischen Tätigkeiten in den Krankenhäusern sollen zugunsten privater Unternehmen outgesourct werden.
  8. Die „rentablen“ Leistungen der Krankenhäuser sollen auf Privatkliniken übertragen werden.
  9. Die Bedeutung der öffentlichen Häuser soll sinken, indem Teile der Primärversorgung in den privatärztlichen Bereich verlagert werden, andere Teile in den medizinisch-sozialen Bereich.

II. Welche politische Alternativen?

Der Kampf gegen diese „Reformen“ darf sich nicht darauf beschränken, einfach das Bestehende zu verteidigen. Uns muss es im Gegenteil darum gehen, eine Alternative zu propagieren, die auf dem „Recht auf Gesundheit“ basiert. Unsere Vorstellungen lassen sich unter die folgenden sechs Stichpunkte subsummieren:

  • Prävention, indem Bedingungen geschaffen, unter denen Alle bei guter Gesundheit leben können;
  • Gewährleistung einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für Alle;
  • Selbstverwaltete Sozialversicherung;
  • Erhalt der öffentlichen Krankenhäuser und Ausweitung zu einem richtiggehenden öffentlichen Gesundheitsdienst;
  • Neudefinition der Tätigkeiten der niedergelassenen Ärzte, besonders indem nicht mehr „Einzelleistungen“ vergütet werden;
  • Sozialisierung der Pharmaindustrie.

1. Prävention durch Bekämpfung der krankmachenden Gesellschafts- und Umwelteinflüsse

Für das Recht auf Gesundheit bedarf es präventiver Maßnahmen in allen Bereichen; bei der Gesundheit am Arbeitsplatz geht es nicht nur die Aufwertung der Arbeitsmediziner, sondern um ein Vetorecht gegen gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen für die Kommissionen, die mit Hygiene, Sicherheit und Arbeitsbedingungen der Arbeitsplätze betraut sind.

Politische Entscheidungen bezüglich Umwelt, Landwirtschaft und Raumordnung müssen gesundheitspolitische Aspekte berücksichtigen.

2. Gewährleistung einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für Alle

  • Freier Zugang zur medizinischen Versorgung für alle setzt voraus, dass diese kostenlos ist und zu 100 % erstattet wird von einer Krankenkasse, die das Monopol innehat und als Teil der solidarischen Sozialversicherung ausschließlich durch Beiträge der Arbeitgeber finanziert wird.
  • Kosten müssen generell mit der „Dritten Seite“ abgerechnet wer den, um Vorleistungen zu vermeiden, die zumeist abschreckend wirken.
  • Alle Formen der „Selbstbeteiligung“ und „Praxisgebühr“ müssen abgeschafft werden.
  • Erhöhte Honorarsätze müssen verboten werden.
  • Genossenschaftliche Zusatzversicherungen sind nicht für Kostenerstattung sondern ausschließlich für vorbeugende Maßnahmen zuständig.
  • Da kein Profit aus dem Gesundheitswesen geschlagen werden darf, müssen Privatversicherungen ausgeschlossen werden.

3. Selbstverwaltung der Sozialversicherung

  • Rückkehr zu den Gründungsprinzipien der Sozialversicherung. Die Sozialbeiträge sind als sozialisierter, „verallgemeinerter“ Teil der Löhne zu sehen und müssen von den Vertretern der Lohnabhängigen selbstverwaltet werden, ohne dass die Unternehmer oder der Staat intervenieren können.
  • Die Sozialversicherten wählen ihre Vertreter in den Kassen.
  • Die Sozialversicherten werden bei allen wichtigen Gesundheitsfragen hinzugezogen, wobei die Diskussion öffentlich und kontrovers unter Hinzuziehung von Expertenmeinungen (Gesundheitsberufe, Wirtschaftswissenschaften, Patientenverbände etc.) geführt wird.
  • Das Gesetz zur Kostenbegrenzung im Gesundheitswesen (plan Juppé) muss abgeschafft werden.

4. Erhalt der öffentlichen Krankenhäuser und Ausweitung zu einem richtiggehenden öffentlichen Gesundheitsdienst

In erster Linie geht es um den Erhalt der bestehenden Krankenhäuser:

  • Alle Streichungen von Betten, Angeboten und Häusern müssen ausgesetzt werden und jede Entscheidung über den Erhalt einer Versorgungseinrichtung der Bevölkerung übertragen werden.
  • Die bisherigen „Reformen“ oder Reformpläne müssen rückgängig gemacht werden.
  • Privatbetten in öffentlichen Häusern müssen abgeschafft werden.
  • Den Häusern müssen die notwendigen Haushaltsmittel zugestanden werden (sofortige 8%ige Anpassung)
  • Ein Beschäftigungs- und Ausbildungsprogramm muss auf den Weg gebracht werden, um 100 000 Stellen in den öffentlichen Krankenhäusern zu schaffen.
  • Der Numerus clausus für das Medizinstudium muss abgeschafft werden, um hinreichend Ärzte für eine präventive und kurative Medizin auszubilden.
  • Enteignung der nur zu Profitzwecken bestehenden Privatkliniken und Überführung dieser Häuser in öffentliches Eigentum.
  • Übernahme aller dortigen Beschäftigten in den öffentlichen Dienst.

Unserer Ansicht nach erstreckt sich die öffentliche Gesundheitsfürsorge nicht allein auf die Krankenhäuser. Daher fordern wir, dass daneben auch öffentliche Gesundheitszentren geschaffen werden müssen, die in den Städten und Stadtteilen – angefangen bei den am meisten unterversorgten Regionen – eine kostenlose Versorgung anbieten müssen. Diese Gesundheitszentren müssen mit den öffentlichen Krankenhäusern verzahnt werden, für die Prävention und Versorgung zuständig sein und ggf. eine Krankenhauseinweisung vornehmen.

Dort muss eine fachübergreifende Versorgung erfolgen, in der Allgemeinmediziner und Fachärzte, medizinische Hilfsberufe und soziale Hilfeleistungen zusammengefasst sind. In ständiger Kooperation mit den niedergelassenen Fach- und Allgemeinärzten, Sozialarbeitern, gewählten Vertretern etc. müssen diese Teams sich um die Gesundheitsprobleme in all ihrer (sozialen) Vielschichtigkeit kümmern und eine Rund-um-die- Uhr-Versorgung sicherstellen. Nur so können die gesundheitlichen Bedürfnisse der Bevölkerung prophylaktisch und unmittelbar sichergestellt und fällige Krankenhauseinweisungen vorgenommen werden, ohne die Notfallambulanzen zu überlasten. Freilich sollen sie nicht an die Stelle der wohnortnahen Krankenhäuser treten, in denen weiterhin Notarztversorgung, Entbindungen und internistische wie chirurgische Behandlung gewährleistet sein müssen.

5. Neudefinition der Tätigkeit der Niedergelassenen

Wir treten für eine Umorientierung der gegenwärtigen medizinischen Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte ein:

  • Die Vergütung darf nicht mehr nach Einzelleistungen erfolgen.
  • Ein neues Vergütungssystem muss die Gesundheitsvorsorge und die aufgewendete Zeit pro Patient anstelle ständig wachsender Einzeluntersuchungen honorieren.
  • Eine kontinuierliche Weiterbildung durch unabhängige Institute muss gewährleistet sein.
  • Um die Niederlassung von Allgemeinmedizinern in aktuell unterversorgten Regionen attraktiv zu machen und zugleich das Medizinstudium demokratisch zu gestalten, sollen die Medizinstudenten auf Wunsch ein Gehalt während ihres Studiums beziehen als Entgelt für ein künftiges Engagement bei Versorgungsengpässen.

6. Sozialisierung der Pharmaindustrie

Da wir Gesundheit nicht als Ware begreifen, kommen wir nicht daran vorbei, für die Enteignung der Pharmaindustrie, deren horrende Profite von den Sozialbeiträgen finanziert werden, einzutreten. Die pharmazeutische Forschung muss öffentlich kontrolliert werden, da Medikamente keine Waren sind. Entweder wirken sie und verfügen über einen anerkannten therapeutischen Nutzen und werden somit auch zu 100 % erstattet, oder sie sind überflüssig oder gar schädlich – dann dürfen sie weder hergestellt noch verkauft werden.

Jean-Claude Laumonier, Krankenpfleger in Rente, Gewerkschafter in der CGT, ist Mitglied der Kommission „Gesundheit und Sozialversicherung“ der Neuen antikapitalistischen Partei (NPA, France) und der IV. Internationale.

Übersetzung: MiWe