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                                  Die 
                                    2007/2008 ausgebrochene Wirtschaftskrise ist 
                                    – oberflächlich betrachtet – 
                                    zwar in den meisten EU-Ländern überwunden, 
                                    aber zu einem sehr hohen Preis: Gewaltige 
                                    Summen wurden zur Stützung der Banken 
                                    aufgebracht, und seit Frühjahr 2010 haben 
                                    wir eine nicht endende Eurokrise. Denn die 
                                    EU ist mit ihren Rettungsplänen (Griechenland, 
                                    Irland, Portugal, andere werden zwangsläufig 
                                    folgen) in einem tatsächlichen Dilemma, 
                                    wie inzwischen auch der Spiegel anerkennt, 
                                    der noch vor einem Jahr die Krise in Griechenland 
                                    darauf zurückführte, dass die Menschen 
                                    dort „über ihre Verhältnisse 
                                    gelebt“ haben. Auf Spiegel-Online stand: 
                                    „Griechenland steckt in einem gewaltigen 
                                    Dilemma: Das Land muss sparen, um weiter Hilfe 
                                    der Euro-Partner zu bekommen. Doch die Radikalkur 
                                    würgt das Wirtschaftswachstum ab - und 
                                    macht damit neue Schulden notwendig.“  
                                    Ungebrochen neoliberale Politik  
                                    Die Verwertungsschwierigkeiten für das 
                                    Kapital haben sich seit Mitte der 1970er Jahre 
                                    deutlich erhöht. Das ist der wesentliche 
                                    Grund, weshalb seit den 1980er Jahren die 
                                    Finanzmärkte zunehmend liberalisiert 
                                    wurden und das anlagehungrige Kapital überproportional 
                                    in diesen Sektor floss (s. Kasten). Dass sich 
                                    damit zwangsläufig eine Blase bildete, 
                                    weil diese Zunahme und die dort abgeschöpften 
                                    Gewinne nicht realwirtschaftlich gedeckt waren, 
                                    ist auch den bürgerlichen ÖkonomInnen 
                                    klar, zumindest den etwas seriöseren 
                                    unter ihnen. Aber daraus ergibt sich noch 
                                    lange keine Änderung der Politik, wie 
                                    an der Verwässerung von „Basel 
                                    III“ zu sehen ist. Dieses Instrument, 
                                    das noch verhandelt wird, soll im Wesentlichen 
                                    nur die Kerneigenkapitalquote der Banken erhöhen 
                                    (von 2 % bis 2019 schrittweise auf 7 %), aber 
                                    es ist klar, dass damit weder die Verwertungsschwierigkeiten 
                                    des Kapitals überwunden werden noch die 
                                    Bildung neuer Blasen verhindert wird. Da 
                                    auch in den wirtschaftlich schwächeren 
                                    EU-Ländern eine extreme Sozialisierung 
                                    der Bankenverluste stattfand, musste dort 
                                    die Zahlungsschwierigkeit als Erstes auftreten. 
                                    Irland z. B. entwickelte in Folge der Wirtschaftskrise 
                                    ein Haushaltsdefizit von 12 % des Bruttoinlandsprodukts 
                                    (BIP). Da die Regierung (in neoliberaler EU-Logik) 
                                    die hohen Bankenverluste übernahm, stieg 
                                    dieses Haushaltsdefizit auf 36 % des BIP. 
                                    Auf die BRD übertragen wären das 
                                    900 Mrd. €! Der 
                                  zweite wesentliche Grund für die immer 
                                  schlechter werdenden Bedingungen in Griechenland 
                                  und den anderen Ländern in vergleichbarer 
                                  Lage ist der enorm hohe Exportdruck der deutschen 
                                  Industrie. „Mit Griechenland, Portugal 
                                  und Spanien […] baute Deutschland in den 
                                  Jahren 2000 bis 2010 einen Handelsbilanzüberschuss 
                                  von zusammen 267 Mrd. Euro auf, davon allein 
                                  37 Mrd. Euro im Vorkrisenjahr 2007.[…] 
                                  Dabei half die in Deutschland ausgebremste Lohnentwicklung, 
                                  die Deutschland bei festen Wechselkursen immer 
                                  wettbewerbsfähiger machte“ (Joachim 
                                  Jahnke: www.jjahnke.net). Die 
                                  deutsche Wirtschaft kommt regelmäßig 
                                  zu einem Außenhandelsüberschuss von 
                                  150 - 185 Mrd. € (2007: 184,9 Mrd., 2010: 
                                  152,4 Mrd.). Allein im ersten Quartal 2011 waren 
                                  es 41 Mrd. €.  
                                  Lohnstückkosten und Reallöhne  
                                  Ein wesentlicher (wenn auch beileibe nicht der 
                                  einzige) Grund für den extremen Exporterfolg 
                                  der deutschen Industrie sind die in Deutschland 
                                  stagnierenden und stellenweise sinkenden Lohnstückkosten. 
                                  Dies ist zum einen eine Folge des anhaltenden 
                                  technologischen Vorsprungs der hier operierenden 
                                  Konzerne, zum anderen ist es den sinkenden Reallöhnen 
                                  in Deutschland geschuldet: So schrieb das DGB-Organ 
                                  Einblick schon 2005: „Schlusslicht Deutschland: 
                                  In den letzten zehn Jahren sind die Einkommen 
                                  der abhängig Beschäftigten in den 
                                  15 alten EU-Ländern real um 7,4 Prozent 
                                  gestiegen, in den USA um 19,6 Prozent, in Großbritannien 
                                  und Schweden sogar um etwas über 25 Prozent. 
                                  In Deutschland sind die Einkommen nach Berechnungen 
                                  des WSI-Tarifarchivs im gleichen Zeitraum [1995 
                                  – 2004] hingegen um 0,9 Prozent gesunken.“ Seitdem 
                                  ist es nur schlimmer geworden. Laut Statistisches 
                                  Taschenbuch Tarifpolitik 2011 sind in den Jahren 
                                  2000 bis 2010 die realen Bruttolöhne und 
                                  -gehälter je Arbeitnehmer um 3,9 % zurückgegangen. Schlimmer 
                                  noch: Die Entwicklung zur Prekarisierung der 
                                  Arbeitsverhältnisse geht ungebremst weiter: 
                                  In den Jahren 2000 - 2010 ist die Zahl der offiziell 
                                  registrierten Erwerbslosen um 650?000 zurückgegangen 
                                  (nach der Zählweise der Internationalen 
                                  Arbeitsorganisation, ILO, waren es nur 210?000 
                                  weniger), aber gleichzeitig stieg die Zahl der 
                                  Scheinselbständigen („Solo-Selbständige“) 
                                  um 500?000, die der Ein-Euro-Jobber um 310?000, 
                                  die der „Geringfügig Beschäftigten“ 
                                  um 770?000, die der Teilzeitbeschäftigten 
                                  um 1,83 Mio. und die der LeiharbeiterInnen 
                                  um 470?000. Mit 
                                  anderen Worten: In diesem Zeitraum sind (ohne 
                                  die Leiharbeitsstellen) 2?550?000 normale Vollzeitstellen 
                                  verschwunden. Vor allem die Leiharbeit grassiert 
                                  heute ganz gewaltig und drückt auf alle 
                                  normalen sozialversicherungspflichtigen (Vollzeit-)Stellen. 
                                  Laut aktueller DGB-Studie verdienen Leihkräfte 
                                  im Schnitt 48 % weniger als die „normal“ 
                                  Beschäftigten. Vor 
                                  allem der sogenannte „Billiglohnbereich“ 
                                  dehnt sich immer mehr aus. Im Durchschnitt des 
                                  Jahres 2010 erhielten 1,383 Millionen Beschäftigten 
                                  ergänzendes ALG II, das sind 4,4 % mehr 
                                  als 2009 und 13 % mehr als 2007.  
                                  Gegenwehr der Gewerkschaften?  
                                  Die mangelnde Gegenwehr der Gewerkschaften lässt 
                                  sich nun wirklich nicht mit den verschlechterten 
                                  Gesamtbedingungen rechtfertigen. Schließlich 
                                  mangelt es schon an einer genauen Positionsbestimmung. 
                                  So schreibt beispielsweise die IG Metall: „Darum 
                                  fordert die IG Metall unter anderem einen gesetzlichen 
                                  Mindestlohn in der Höhe von 8,50 Euro“ 
                                  [!!].“ Oder etwa: „Die IG Metall 
                                  wendet sich gegen die weitere [!!] Privatisierung 
                                  von sozialen Leistungen und eine weitere [!!] 
                                  Verschiebung der Finanzierungslasten zum Nachteil 
                                  der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer“ 
                                  (22. Ordentlicher Gewerkschaftstag: Themen und 
                                  Thesen zu den Entschließungen, herausgegeben 
                                  vom Vorstand der IGM). Die 
                                  DGB-Gewerkschaften setzen heute mehr denn je 
                                  auf „Standortpolitik“, d. h. alles 
                                  zu unternehmen, damit die deutsche Wirtschaft 
                                  konkurrenzfähig bleibt, so konkurrenzfähig, 
                                  dass die anderen EU-Länder totkonkurriert 
                                  werden und die EU die Knebel-„Hilfspakete“ 
                                  schnüren kann. Wie sonst ist zu erklären, 
                                  dass nur in Deutschland die Gewerkschaften mit 
                                  ihrer Unterschrift unter die Tarifverträge 
                                  zur Leiharbeit das Unterlaufen der EU-Richtlinie 
                                  „Gleicher Lohn für Gleiche Arbeit“ 
                                  ermöglichen? Die Ausrede mit den „Christlichen“ 
                                  ist schamlos, zumal diesen im letzten Jahr die 
                                  Tariffähigkeit abgesprochen wurde. Selbst 
                                  bürgerliche ÖkonomInnen „raten“ 
                                  heute zu mehr Lohnsteigerungen. Sie argumentieren 
                                  inzwischen sogar damit, dass sonst die Länder 
                                  Südeuropas noch mehr unter Druck gerieten, 
                                  und der „verteilungsneutrale Spielraum“ 
                                  (Inflationsrate von ca. 2,3 % + Produktivitätsfortschritt, 
                                  der in der letzten Zeit bei 1,8 % lag) ließe 
                                  ja mehr zu (nämlich „etwa 3 – 
                                  4 %“). Ach wie gnädig und ach wie 
                                  „ratsam“!  
                                  Ware Arbeitskraft  
                                  Das Dumme daran ist: Diese Logik – alle 
                                  Beteiligten setzen das gemeinsam um, was „gesamtwirtschaftlich 
                                  am vernünftigsten ist“ – kann 
                                  im Kapitalismus nicht funktionieren. Dazu drei 
                                  Grundsatzanmerkungen. Erstens: 
                                  Das Kapital hätte es gerne, wenn auch im 
                                  Inland die Kaufkraft steigt. Aber die dafür 
                                  erforderlichen Lohnerhöhungen sollen bitte 
                                  die anderen KapitalistInnen zahlen. Man 
                                  selbst will ja die Konkurrenzbedingungen nicht 
                                  für sich selbst verschlechtern. Zahlungen 
                                  aus den sozialen Sicherungssystemen sollen grundsätzlich 
                                  eher gesenkt als erhöht werden, denn das 
                                  erhöht den Druck, für wenig Geld arbeiten 
                                  zu gehen, und senkt die Kosten für den 
                                  indirekten Lohn („Lohnnebenkosten“). Zweitens: 
                                  Das Einzelkapital wird sich hüten, auch 
                                  bei sehr guter Geschäftslage, ohne Kampf 
                                  den eigenen Beschäftigten dauerhafte Erhöhungen 
                                  zu gewähren. Im besten Fall gibt es eine 
                                  Einmalzahlung. Das geschah dieses Jahr in einigen 
                                  Konzernen, um die Gemüter zu beruhigen 
                                  und um keine Nachschlagdiskussion und erst recht 
                                  eine Nachschlagbewegung zu riskieren. Eine Bewegung 
                                  könnte – nach gewonnener Erfahrung 
                                  der eigenen, kollektiven Stärke – 
                                  zu steigendem Selbstbewusstsein führen.  
                                  Drittens: Lohnerhöhungen werden – 
                                  wenn sie nennenswert sein sollen – nur 
                                  über Kampf erreicht, nicht über Ratschläge 
                                  und Appelle an die gesamtwirtschaftliche Vernunft.  
                                  Governance-Reform-Paket  
                                  Das aktuell so besonders Gefährliche ist 
                                  die Knebelpolitik, die von den wirtschaftlich 
                                  starken Ländern den niederkonkurrierten 
                                  Ländern über die EU aufgezwungen wird. 
                                  Merkel will den anderen Ländern beispielsweise 
                                  eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 
                                  das deutsche Niveau aufzwingen. Passend dazu 
                                  hat der Sachverständigenrat gerade erklärt, 
                                  dass das Renteneintrittsalter angehoben werden 
                                  muss, auf 69 Jahre! Wenn über diesen Weg 
                                  der ständigen Anhebung niemand mehr das 
                                  Rentenalter erreicht, kann das Kapital sich 
                                  diesen Teil des indirekten Lohns natürlich 
                                  sparen! Am 
                                  verheerendsten ist die Haltung der Gewerkschaftsführungen. 
                                  Sie stellen sich noch nicht einmal die Frage, 
                                  welche Erweiterungen das Governance-Reform-Paket 
                                  mit sich bringt, von dem Eingeständnis 
                                  einer falschen Tarifpolitik ganz zu schweigen. 
                                  Der Anstoß für mehr Gegenwehr gegen 
                                  das Governance-Reform-Paket wird in der nächsten 
                                  Zeit nicht von den deutschen Gewerkschaften 
                                  zu erwarten sein. Einen kleinen Beitrag könnte 
                                  die soziale Bewegung auf europäischer Ebene 
                                  bilden, die sich am 1. Oktober in London zu 
                                  einer Konferenz trifft. Der größte 
                                  Anstoß allerdings könnte von einem 
                                  Aufschwung der Gegenwehr in den von den Knebel-Hilfspaketen 
                                  betroffenen Ländern kommen. |