| Die 
                                  meisten Betrachter der entwickelten kapitalistischen 
                                  Länder Mitte der 60er Jahre glaubten, das 
                                  System habe seine Probleme aus der Zwischenkriegszeit 
                                  abgeschüttelt. Es wurde nicht mehr von 
                                  immer tieferen Krisen, endloser wirtschaftlicher 
                                  Ungewissheit und politischer Polarisation zwischen 
                                  revolutionärer Linken und faschistischer 
                                  Rechten geplagt.  Der deutschamerikanische "Marxist" 
                                  Herbert Marcuse schrieb, dass „ein übergeordnetes 
                                  Interesse am Erhalt und der Verbesserung des 
                                  institutionellen Status quo die einstigen Widersacher 
                                  [die Bourgeoisie und das Proletariat] auf den 
                                  fortgeschrittendsten gesellschaftlichen Gebieten" 
                                  vereinige. Es hatte den Anschein, als 
                                  sei die Geschichte oder zumindest die Geschichte 
                                  der Klassenkämpfe an ihr Ende gelangt - 
                                  außer vielleicht in der Dritten Welt. 
                                  Aber eine Serie sozialer Unruhen und erbitterter 
                                  Streiks kennzeichnete die Zeit ab Mitte der 
                                  60er Jahre. Weit entfernt von ihrem Ende legte 
                                  die Geschichte an Fahrt zu. 1968: 
                                  Der plötzliche Klang der Freiheit Für gewöhnlich bezeichnet 
                                  man das Jahr 1968 als das 'Jahr der Studentenrevolte‘. 
                                  Es war wirklich ein Jahr, das studentische Proteste, 
                                  Demonstrationen und Besetzungen auf der ganzen 
                                  Welt erlebte - in Westberlin, New York und Harvard, 
                                  Warschau und Prag, Mexiko City und Rom. Aber 
                                  in dem Jahr ereignete sich weit mehr als das. 
                                  Es wurde Zeuge vom Höhepunkt der Revolte 
                                  schwarzer Amerikaner, dem größten 
                                  Schlag gegen das Ansehen des US-Militärs 
                                  (in Vietnam), dem Widerstand gegen russische 
                                  Truppen (in der Tschechoslowakei), dem größten 
                                  Generalstreik der Weltgeschichte (in Frankreich), 
                                  dem Anfang einer Welle von Arbeiterkämpfen, 
                                  die die italienische Gesellschaft noch sieben 
                                  Jahre lang erschüttern sollte, und des 
                                  Beginns der später 'Troubles‘ genannten 
                                  Kämpfe in Nordirland. Die Studentenkämpfe 
                                  bildeten ein Symptom für den Zusammenstoß 
                                  größerer sozialer Kräfte, auch 
                                  wenn sie auf diese zurückwirken und sie 
                                  beeinflussen sollten. Die 
                                  Ausbrüche von 1968 waren ein Schock, weil 
                                  die Gesellschaften, in denen sie auftraten, 
                                  einen so stabilen Anschein erweckt hatten. Der 
                                  McCarthyanismus hatte die Linke zerstört, 
                                  die in den 30er Jahren in den USA existiert 
                                  hatte, und die Gewerkschaftsführer des 
                                  Landes waren notorisch bürokratisch und 
                                  konservativ. Die Tschechoslowakei war das florierendste 
                                  der osteuropäischen Länder und wurde 
                                  am wenigsten von den Unruhen von 1956 beeinträchtigt. 
                                  Frankreich stand seit zehn Jahren fest unter 
                                  der diktatorischen Herrschaft de Gaulles, die 
                                  Linke schnitt in Wahlen schlecht ab, und die 
                                  Gewerkschaften waren schwach. In Italien kamen 
                                  und gingen die Regierungen, aber sie wurden 
                                  immer von Christdemokraten geführt, die 
                                  sich auf die katholische Kirche stützten, 
                                  um das Volk zu ihren Gunsten an die Urnen zu 
                                  locken. Ein 
                                  Großteil der Stabilität war dem Wirtschaftswachstum 
                                  geschuldet, das diese Länder erfahren hatten. 
                                  Aber allein dieses Wachstum schuf Kräfte, 
                                  die die Stabilität unterhöhlten, und 
                                  diese Kräfte ließen die politischen 
                                  und ideologischen Strukturen 1968 platzen. In 
                                  den USA stand die Mehrheit der schwarzen Bevölkerung 
                                  zu Beginn des großen Booms da, wo sie 
                                  am Ende der Sklaverei stand - sie war Teilpächter 
                                  von Farmen im ländlichen Süden, wo 
                                  der lokale Staat und die weißen Rassisten 
                                  das Gewehr, die Peitsche und den Strick einsetzten, 
                                  um sie zur Akzeptanz ihrer untergeordneten Position 
                                  zu zwingen. Der Boom beschleunigte das Abwandern 
                                  in die Städte, um dort Arbeit in der Industrie 
                                  zu finden. 1960 waren drei Viertel der Schwarzen 
                                  Städter. Schon die zahlenmäßige 
                                  Konzentration ließ das Selbstvertrauen 
                                  entstehen, mit dem sie sich gegen die Rassisten 
                                  und den Staat erhoben. 1955 entfachte die Weigerung 
                                  einer schwarzen Frau, Rosa Parks, sich in den 
                                  Trennbereich im hinteren Bus zu setzen, einen 
                                  gewaltigen Busboykott, der die alten Machtstrukturen 
                                  Montgomerys, Alabama, erschütterte. 1965, 
                                  1966 und 1967 ereigneten sich schwarze Aufstände 
                                  in den nördlichen Städten wie Los 
                                  Angeles, Newark und Detroit. 1968 ging nach 
                                  der Ermordung Martin Luther Kings buchstäblich 
                                  jedes Ghetto im Land in Rauch auf, und ein Großteil 
                                  der schwarzen Jugendlichen identifizierte sich 
                                  zunehmend mit der Partei der Black Panther, 
                                  die zu bewaffneter Selbstverteidigung und zur 
                                  Revolution aufrief. Das 
                                  Vermögen der existierenden Ordnung in Frankreich 
                                  und Italien zur Selbststabilisierung Ende der 
                                  40er Jahre - und im faschistischen Spanien und 
                                  Portugal zur eigenen Erhaltung - beruhte auf 
                                  dem Umstand, dass ein großer Anteil der 
                                  Menschen dieser Länder immer noch Kleinbauern 
                                  waren, die man zur Unterstützung des Status 
                                  quo schmieren oder zwingen konnte. Der ideologische 
                                  Ausdruck dessen war der Druck, den die hochkonservative 
                                  katholische Kirche in vielen Regionen ausübte. 
                                  Der lange Boom veränderte das. 1968 konzentrierten 
                                  sich eine große Zahl Männer und Frauen 
                                  mit bäuerlichem Hintergrund in den Fabriken 
                                  und anderen großen Arbeitsstätten 
                                  der Länder Südeuropas. Zunächst 
                                  neigten sie zur Aufrechterhaltung ihrer ländlichen 
                                  Vorurteile, widersetzten sich dem Beitritt in 
                                  die Gewerkschaften oder unterstützten die 
                                  konservativen katholischen Arbeitnehmervertretungen. 
                                  Aber sie waren mit derselben Lage konfrontiert 
                                  wie die älteren Gruppen Arbeiter, die sich 
                                  noch an die Kämpfe der 30er Jahre und an 
                                  die großen Streiks gegen Ende des Krieges 
                                  erinnerten - mit dem unaufhörlichen Anhalten 
                                  zu härterer Arbeit, der Schikane durch 
                                  Vorbeiter und Manager und dem Druck auf die 
                                  Löhne durch steigende Preise. 1968 und 
                                  1969 sollten sie sich zu einer mächtigen 
                                  Kraft verschmelzen, die das System bedrohte. Die 
                                  Stabilität der Tschechoslowakei Mitte der 
                                  50er Jahre war ebenfalls das Ergebnis einer 
                                  boomenden Wirtschaft. Ein Wachstum von etwa 
                                  sieben Prozent im Jahr hatte der herrschenden 
                                  Bürokratie Zuversicht verliehen und eine 
                                  beträchtliche Erhöhung der Reallöhne 
                                  ermöglicht. Anfang der 60er Jahre erschöpfte 
                                  sich die Wachstumsrate und führte zum Aufbau 
                                  von Frustrationen auf jeder Gesellschaftsebene 
                                  und zu Spaltungen in der herrschenden Bürokratie. 
                                  Führende Parteifiguren zwangen den Präsidenten 
                                  und Parteisekretär Nowotny zum Rücktritt. 
                                  Intellektuelle und Studenten ergriffen die Möglichkeit, 
                                  sich zum ersten Mal innerhalb der vergangenen 
                                  20 Jahre frei zu äußern. Der gesamte 
                                  Zensurapparat brach zusammen, und die Polizei 
                                  erweckte auf einmal den Anschein, dem wachsenden 
                                  Unmut keinen Einhalt bieten zu können. 
                                  Die Studenten bildeten einen freien Studentenverband, 
                                  die Arbeiter begannen, staatlich bestimmte Gewerkschaftsführer 
                                  abzusetzen, Minister wurden im Fernsehen für 
                                  ihre Politik in die Mangel genommen, und eine 
                                  öffentliche Diskussion über die Schrecken 
                                  der stalinistischen Ära entfaltete sich. 
                                  Für die Herrscher Russlands ging das zu 
                                  weit. Im August 1968 entsandten sie eine gewaltige 
                                  Zahl Truppen in das Land und verschleppten Schlüsselfiguren 
                                  der Regierung in die Haft nach Moskau. 
                                   
                                    |  |   
                                    | 1968 
                                        - Russische Panzer in Prag |   Sie 
                                  waren davon ausgegangen, den Unmut über 
                                  Nacht zerschlagen zu können, aber die direkte 
                                  Auswirkung war seine Vertiefung und Ausweitung. 
                                  Gegen die russischen Panzer gab es nur begrenzte 
                                  physische Gegenwehr, aber einen gewaltigen passiven 
                                  Widerstand. Russland sah sich gezwungen, der 
                                  tschechoslowakischen Regierung die Heimkehr 
                                  gegen das Versprechen zu gestatten, die Unruhe 
                                  unter Kontrolle zu bringen. Es sollte neun Monate 
                                  dauern, in die immer wieder Streiks und Demonstrationen 
                                  fielen, bis dieses Versprechen eingelöst 
                                  wurde. Schließlich gelang es Russland, 
                                  eine Marionettenregierung zu installieren, 
                                  die die offene Opposition zum Schweigen brachte, 
                                  indem sie den Menschen ihren Arbeitsplatz nahm 
                                  und sie in einigen Fällen verhaftete. Der 
                                  stalinistische Staatskapitalismus sollte die 
                                  Tschechoslowakei für weitere 20 Jahre beherrschen. Bratislava 
                                  1968 Nun 
                                  war der ideologische Schaden für das stalinistische 
                                  System gewaltig. International belebte das Geschehen 
                                  wieder die Zweifel, die die Menschen in der 
                                  Linken 1956 gefühlt hatten. Die meisten 
                                  Kommunistischen Parteien Westeuropas verurteilten 
                                  die russische Besatzung, wenn auch nur zur Erleichterung 
                                  der Zusamenarbeit mit den sozialdemokratischen 
                                  und mittelständischen Politkräften 
                                  in ihrem Heimatland. Unter den Jugendlichen, 
                                  die sich nach links bewegten, wurde es zum Gemeinplatz, 
                                  den „Imperialismus Ost wie West" 
                                  zu veuteilen. In Osteurpa einschließlich 
                                  der Tschechoslowakei war die Mitgliedschaft 
                                  in den herrschenden Parteien immer weniger mit 
                                  irgendeiner ideologischen Überzeugung verbunden 
                                  - der Eintritt in die Partei bildete einen Schritt 
                                  in der Karriere, nicht mehr und auch nicht weniger. Selbst 
                                  die Probleme, denen die USA in Vietnam gegenüberstanden, 
                                  wurden in gewisser Weise vom langen Boom erzeugt. 
                                  Die Tet-Offensive war es, die den Krieg 1968 
                                  auf die Mitte der Weltbühne rückte. 
                                  Aber Tet stellte nicht die durchschlagende Niederlage 
                                  der US-Streitkräfte dar. Damals brüsteten 
                                  sich die Vereinigten Staaten mit der Rückeroberung 
                                  der Kontrolle über die Städte - obwohl 
                                  ein General sich in einem Fall zum Eingeständnis 
                                  gezwungen sah: „Wir mussten die Stadt 
                                  vernichten, um sie zu retten." Tet bildete 
                                  den Wendepunkt im Krieg, weil er Schlüsselbereiche 
                                  des großen Geldes davon überzeugte, 
                                  dass die USA einfach nicht die Kosten aufbringen 
                                  konnten, die die Aufrechterhaltung der Kontrolle 
                                  über das Land erforderte. Die USA gaben 
                                  für den Krieg nicht mehr aus, als sie es 
                                  in Korea getan hatten. Aber der inzwischen eingesetzte 
                                  Boom hatte den Aufstieg des japanischen und 
                                  des deutschen Kapitalismus miterlebt, und die 
                                  Vereinigten Staaten konnten es sich nicht leisten, 
                                  sich den Herausforderungen ihrer wirtschaftlichen 
                                  Konkurrenz zu stellen und gleichzeitig die Kosten 
                                  eines Landkrieges in Vietnam zu bezahlen. Wie 
                                  die Dinge standen, verhinderte der Krieg Präsident 
                                  Johnsons Projekt eines 'Great Society‘-Programms 
                                  von Sozialausgaben, von dem er sich Ansehen 
                                  und für die USA langfristige Stabilität 
                                  erhoffte. Schließlich 
                                  hatte der lange Boom in allen fortgeschrittenen 
                                  kapitalistischen Ländern zu einer gewaltigen 
                                  Zunahme der Studentenzahlen geführt. Überall 
                                  förderte der Staat eine erhebliche Ausweitung 
                                  der höheren Bildung, weil er versuchte, 
                                  die Konkurrenzfähigkeit seines nationalen 
                                  Kapitalismus zu stärken. In Britannien, 
                                  wo es während des Ausbruchs des Zweiten 
                                  Weltkrieges 69.000 Studenten gab, waren es 1964 
                                  fast 300.000. Das Wachstum erzeugte auch einen 
                                  qualitativen Wandel in der Zusammensetzung der 
                                  Studentenschaft. Stammte sie in der Vergangenheit 
                                  überwiegend aus der herrschenden Klasse 
                                  und ihrem Anhang, sollte sie sich nun hauptsächlich 
                                  aus Kindern des Mittelstandes und in geringerem 
                                  Maße der Arbeiterklasse rekrutieren. Die 
                                  Universitäten, an denen die Masse der Studenten 
                                  studierte, waren zunehmend groß und nach 
                                  gleichem Muster gebaut und konzentrierten die 
                                  Studenten auf dieselbe Weise, wie die Arbeiter 
                                  in den Betrieben konzentriert wurden. Die Studentenaktivisten 
                                  im kalifornischen Berkeley beklagten sich über 
                                  diese „Wissensfabriken". An 
                                  diesen Orten kamen die Studenten nur drei oder 
                                  vier Jahre zusammen, ehe sie sich zu äußerst 
                                  unterschiedlichen Klassenpositionen in der breiteren 
                                  Gesellschaft begaben. Aber die Lage, in der 
                                  sie sich wiederfanden, konnte eine Gefühls- 
                                  und Interessensgemeinschaft hervorbringen, die 
                                  sie zu kollektivem Handeln veranlassen konnte. 
                                  Etwas anderes konnte dieselbe Wirkung erzeugen 
                                  - die ideologischen Spannungen in der breiteren 
                                  Gesellschaft. In konzentrierter Form existierten 
                                  diese in einem Milieu, in dem von Tausenden 
                                  Jugendlichen - als Studenten der Soziologie, 
                                  Literatur-, Geschichts- oder Wirtschaftswissenschaften 
                                  - erwartet wurde, ideologische Themen aufzunehmen 
                                  und wiederzugeben. Das 
                                  bedeutete, dass die Fragen, die die breitere 
                                  Gesellschaft aufwarf, an den Universitäten 
                                  explosiv werden konnten. So entstanden die Studentenkämpfe 
                                  in Berlin während eines Staatsbesuches 
                                  des despotischen Schahs von Iran aus der Ermordung 
                                  eines Demonstranten durch die Polizei heraus, 
                                  in den USA aus den Schrecken des Krieges gegen 
                                  Vietnam und aus der Solidarität mit den 
                                  Kämpfen der Schwarzen, in Polen aus den 
                                  Protesten gegen die Verhaftung von Regimekritikern, 
                                  in der Tschechoslowakei als Teil des Widerstandes 
                                  gegen die russische Besatzung.
 
                                   
                                    |  |   
                                    | Paris 
                                        1968 |  Kämpfe, 
                                  die sich an Studentenfragen entzündet hatten, 
                                  verallgemeinerten sich rasant, bis sie den Gesamtcharakter 
                                  der Gesellschaft in Angriff nahmen. Am dramatischsten 
                                  zeigte sich das in Frankreich. Auf kleine Studentenproteste 
                                  gegen die Lernbedingungen reagierten die Behörden 
                                  mit der Schließung der ganzen Universität 
                                  Paris und der Entsendung der Polizei. Entsetzt 
                                  von der Polizeigewalt beteiligte sich eine zunehmende 
                                  Zahl Studenten an den Protesten, bis die Polizei 
                                  in der 'Nacht der Barrikaden‘ (am 10. 
                                  Mai) kurzfristig aus den linken Stadtteilen 
                                  vertrieben wurde. Die Studentenbewegung stand 
                                  schnell als Symbol für den erfolgreichen 
                                  Widerstand gegen die gesamte Ordnung, über 
                                  die de Gaulle mit seinen autoritären Methoden 
                                  und seiner Bereitschaft herrschte, bewaffnete 
                                  Polizei zur Zerschlagung von Streiks und Protesten 
                                  einzusetzen. Als Reaktion auf den Druck von 
                                  unten riefen die Führer der rivalisierenden 
                                  Gewerkschaften zu einem eintägigen Generalstreik 
                                  am 13. Mai auf - und waren selbst von der Beteiligung 
                                  überrascht. Durch den Erfolg des Generalstreiks 
                                  ermutigt begannen jugendliche Arbeiter am nächsten 
                                  Tag mit der Besetzung des Sud Aviation-Betriebes 
                                  in Nantes. Andere Arbeiter folgten dem Beispiel, 
                                  und innerhalb zweier Tage durchlief das ganze 
                                  Land eine Wiederholung der Besetzungen von 1936 
                                  - allerdings in viel größerem Maßstab. 
                                  Zwei Wochen war die Regierung wie gelähmt, 
                                  und der Großteil der Berichterstattung 
                                  in den Medien, die weiterhin erschienen, drehte 
                                  sich um die zutage tretende 'Revolution‘. 
                                  Ein völlig verzweifelter de Gaulle floh 
                                  unter Geheimhaltung zu den Generälen, die 
                                  die französischen Streitkräfte in 
                                  Deutschland kommandierten, nur um mitgeteilt 
                                  zu bekommen, es sei seine Aufgabe, die Agitation 
                                  zu beenden. Das schaffte er schließlich, 
                                  weil den Gewerkschaften und vor allem der Kommunistischen 
                                  Partei die Zusicherung von Lohnerhöhungen 
                                  und einer neuen Wahl aureichte, um die Menschen 
                                  zur Rückkehr an die Arbeit zu drängen. 
                                   
                                    |  |   
                                    | Paris 
                                        1968, Manifestation der Arbeiter |  Berlin 
                                  1968 Selbst 
                                  vor den Maiereignissen führte die Ausweitung 
                                  der internationalen Studentenkämpfe zu 
                                  einer Popularität der revolutionären 
                                  Sprache. Aber bis zum Mai stand eine derartige 
                                  Sprache unter dem Einfluss von den Vorstellungen 
                                  von Menschen wie Herbert Marcuse, die Abschied 
                                  von den Arbeitern genommen hatten. Das veränderte 
                                  der Mai. Von da an herrschte eine wachsende 
                                  Neigung vor, eine Verbindung zum Geschehen in 
                                  den Jahren 1848, 1871, 1917 und 1936 herzustellen 
                                  - und manchmal zu den Ereignissen von 1956. 
                                  Marxistische Ideen, die 20 Jahre oder mehr dazu 
                                  verdammt waren, eine Randexitenz im etablierten 
                                  Geistesleben im Weten zu fristen, kamen 
                                  plötzlich in Mode. Und 30 Jahre später 
                                  sollten alternde Intellektuelle in der gesamten 
                                  westlichen Welt noch immer von den Auswirkungen 
                                  'der Sechziger‘ schwärmen oder sie 
                                  beklagen. 
                                   
                                    |  |   
                                    | Berlin, 
                                        1968 - aus einer Reihe von APO-Polit-Postkarten 
                                        1967/68 |    Nicht 
                                  nur die Kultur im engen intellektuellen Sinn 
                                  wurde von 1968 beeinflusst. So geschah es auch 
                                  vielen Elementen der breiteren 'Massen‘- 
                                  oder 'Jugend‘-Kultur. Die Vorurteile, 
                                  mit denen Jugendliche aufwachsen, wurden in 
                                  Frage gestellt. Es kam zu radikalen Veränderungen 
                                  in der Kleidung und dem Haarschnitt und der 
                                  breiten Übernahme von Mode, die bisher 
                                  nur mit Minderheiten der 'Subkultur‘ in 
                                  Verbindung gebracht wurde. Der Konsum von Drogen 
                                  (hauptsächlich Marihuana, Amphetaminen 
                                  und LSD) fand weite Verbreitung. Wichtiger noch, 
                                  eine wachsende Zahl Hollywoodfilme stellte den 
                                  Amerikanischen Traum eher in Frage als ihn zu 
                                  propagieren, und die Pop-Musik griff zunehmend 
                                  andere Themen auf als sexuelles Verlangen und 
                                  romantische Liebe. In 
                                  den Vereinigten Staaten ebneten die ursprünglichen 
                                  'Bewegungen‘ - die Bürgerrechts- 
                                  und Black Liberation-Bewegung, die Antikriegs- 
                                  und die Studentenbewegung - anderen Bewegungen 
                                  den Weg. Sie inspirierten die Indianer, den 
                                  Kampf gegen ihre Unterdrückung aufzunehmen, 
                                  und die Homosexuellen in New York, sich gegen 
                                  die Überfälle auf ihre Clubs zu wehren. 
                                  Die Erfahrung der Bewegungen brachte auch Tausende 
                                  Frauen dazu, die untergeordnete Rolle abzulehnen, 
                                  die ihnen in der US-Gesellschaft zugeteilt war 
                                  - und viel zu oft auch innerhalb der Bewegungen. 
                                  Sie gründeten die Women's Liberation Movement 
                                  und erhoben Forderungen, die die Unterdrückung 
                                  hinterfragten, die die Frauen seit Entstehung 
                                  der Klassengesellschaften zu erleiden hatten, 
                                  womit sie auf den Widerhall bei jenen Frauen 
                                  stießen, die keine direkte Verbindung 
                                  zur Bewegung besaßen. Der Umstand, dass 
                                  die Mehrheit der Frauen allmählich ein 
                                  Leben lang zur berufstätigen Arbeitskraft 
                                  gehörte und die damit verbundene Unabhängigkeit 
                                  genoss, verschaffte sich Ausdruck. Die 
                                  neue Sackgasse Die 
                                  Welle der Radikalisierung verebbte nicht 1968. 
                                  Die größten Studentenproteste in 
                                  den USA ereigneten sich 1970. Nachdem Truppen 
                                  der Nationalgarde Studenten an der Kent State 
                                  University in Ohio erschossen hatten, weil sie 
                                  gegen Präsident Nixons Ausweitung des Vietnamkrieges 
                                  nach Kambodscha demonstriert hatten, wurden 
                                  im ganzen Land Universitäten besetzt. In 
                                  Griechenland brach die Studentenbewegung 1973 
                                  mit der Besetzung des Polytechnicums in Athen 
                                  aus, die die Militärjunta erschütterte, 
                                  welche das Land sechs Jahre lang beherrscht 
                                  hatte, und zu deren Sturz sieben Monate später 
                                  beitrug. In Westdeutschland stachen die Universitäten 
                                  noch weitere Jahre als Ghettos für linke 
                                  (hauptsächlich maoistische) Agitation inmitten 
                                  eines sonst apolitischen Landes hervor.
 
                                   
                                    |  
   |   
                                    | Beim 
                                        Kent-State-Massaker wurden am 4. Mai 1970 
                                        an der Kent State University in den USA 
                                        vier Studenten erschossen, und neun teils 
                                        schwer verletzt, als die Nationalgarde 
                                        während einer Demonstration gegen 
                                        den Vietnamkrieg das Feuer auf die Menge 
                                        unbewaffneter Demonstranten eröffnete. |  Trotzdem 
                                  kam es nach 1968 in verschiedenen Ländern 
                                  zu bedeutenden Verlagerungen. Die Studenten 
                                  bildeten nicht mehr das Zentrum der linken Opposition. 
                                  In Italien wurde die Arbeiterbewegung nach dem 
                                  'Heißen Herbst‘ von 1969 ausschlaggebend, 
                                  als die Metallarbeiter ihre Betriebe während 
                                  Lohnkämpfen besetzten. Auch in Spanien 
                                  spielte die Arbeiterbewegung Ende des Jahres 
                                  1970 die zentrale Rolle und schwächte so 
                                  das Regime in den letzten Jahren im Leben Francos, 
                                  das seine Nachfolger fast schon im Moment seines 
                                  Sterbens 1975 im Eilschritt 'demokratischen‘ 
                                  Reformen unterzogen. In Britannien beschädigte 
                                  die gewerkschaftliche Aktivität, die gegen 
                                  den Willen der Gewerkschaftsführer stattfand, 
                                  die konservative Regierung Edward Heath's so 
                                  nachhaltig, dass er Anfang 1974 eine Wahl unter 
                                  dem Titel „Wer hat das Sagen im Land?" 
                                  anberaumte - und unterlag. Beizeiten 
                                  vermochten die Studenten Kämpfe zu entfachen, 
                                  die die Arbeiter einschlossen, aber wie die 
                                  Kämpfe endeten, hing von den Arbeiterorganisationen 
                                  ab. Deutlich zeigte sich das im französischen 
                                  Mai 1968, als es den Gewerkschaften und der 
                                  Kommunistischen Partei gelang, den Generalstreik 
                                  trotz der Einwände des bekanntesten Studentenführers 
                                  zu beenden. 1975-76 zeigte sich das wieder in 
                                  Italien, Britannien und Spanien. Die italienischen 
                                  Christdemokraten, die britischen Konservativen 
                                  und Franco in Spanien konnten die Arbeiterkämpfe 
                                  nicht selbst drosseln. Das gelang Regierungen 
                                  nur mit der Unterzeichnung von Vereinbarungen 
                                  mit den Gewerkschaftsführern und Arbeiterparteien 
                                  - was in Italien als 'historischer Kompromiss‘, 
                                  in Britannien als 'Sozialvertrag‘ und 
                                  in Spanien als 'Moncloa-Pakt‘ bezeichnet 
                                  wurde. Noch 
                                  während der lange Boom sich seinem Ende 
                                  neigte, wirkte sich das in jedem einzelnen Fall 
                                  als Eindämmung der Aktionen der Arbeiterklasse 
                                  aus und veringerte die Aufmerksamkeit der Menschen, 
                                  als man zum K.o.-Schlag gegen sie ausholte. Auch 
                                  in einer weiteren Weltregion führte der 
                                  studentische Radikalismus Ende der 60er Jahre 
                                  zu einer Welle von Arbeiterkämpfen in den 
                                  70ern - dem südlichen 'Zapfen‘ Lateinamerikas. 
                                  Die späten 60er Jahre erlebten einen Beinahe-Aufstand 
                                  im argentinischen Cordoba mit, und eine Welle 
                                  Landbesetzungen setzte den christdemokratischen 
                                  Präsidenten Chiles unter Druck. In beiden 
                                  Fällen wurde das Verlangen nach Veränderung 
                                  in verfassungsmäßige Bahnen gelenkt. In 
                                  Argentinien konzentrierte es sich auf die Forderung 
                                  nach der Rückkehr des Nachkriegsdiktators 
                                  Peron aus dem Exil. Er hatte in einer Zeit geherrscht, 
                                  als sich die hohen Weltmarktpreise für 
                                  argentinische Landwirtschaftsexporte in relativ 
                                  hohen Löhnen und einer Sozialfürsorge 
                                  für die Arbeiter niederschlugen. Die Menschen 
                                  hofften, seine Rückkehr würde auch 
                                  die gute alte Zeit zurückbringen. Diese 
                                  Botschaft wiederholten die rivalisierenden linken 
                                  und rechten Peron-Anhänger - und selbst 
                                  eine mächtige Stadtguerilla-Organisation, 
                                  die Montoneros. Seine schließliche Rückkehr 
                                  brachte allerdings keine Verbesserungen für 
                                  die Arbeiter, sondern entfesselte einen Angriff 
                                  durch die Rechte und das Militär, der die 
                                  Linke völlig unvorbereitet traf. Nach Perons 
                                  Tod fühlte das Militär sich stark 
                                  genug, die Macht direkt in die eigenen Hände 
                                  zu nehmen. Eine ganze Generation linker Aktivisten, 
                                  deren Zahl in die Zehntausende ging, wurde ermordet 
                                  oder 'verschwand‘ einfach. In 
                                  Chile war die parlamentarische Sozialistische 
                                  Partei Nutznießerin der neuen Radikalität. 
                                  Salvador Allende, einer ihrer Führer, wurde 
                                  1970 zum Präsidenten gewählt, und 
                                  die rechte Parlamentsmehrheit gab seiner Amtsübernahme 
                                  ihre Zustimmung gegen eine verfassungsmäßige 
                                  Garantie, dass er die militärische Befehlskette 
                                  nicht antasten würde. Wichtige Geschäftslobbyisten 
                                  aus den USA wollten sich damit nicht zufriedengeben, 
                                  und nach zwei Jahren von Allendes Amtszeit gesellten 
                                  sich ihnen die ausschlaggebenden Teile der chilenischen 
                                  herrschenden Klasse hinzu. Ein Versuch, ihn 
                                  durch einen 'Streik der Bosse‘ zum Rücktritt 
                                  zu zwingen, wurde 1972 von den Lastwagenbesitzern 
                                  angeführt. Die Arbeiter vereitelten ihn 
                                  mit der Übernahme der Fabriken und der 
                                  Errichtung von cordones - die den Arbeiterräten 
                                  von 1917 und 1956 ähnelten -, die als Bindeglieder 
                                  zwischen den Fabriken fungierten. Ein Putschversuch 
                                  im Juni 1973 scheiterte an Spaltungen innerhalb 
                                  der Streitkräfte und an massiven Protesten 
                                  auf der Straße. Aber die Kommunistische 
                                  Partei und bedeutende Bereiche der Sozialistischen 
                                  Partei wiesen die Menschen an, die cordones 
                                  herunterzufahren und der 'Verfassungstreue‘ 
                                  der Armee zu vertrauen. Im Glauben, er beschwichtige 
                                  damit die Rechte und erhalte gleichzeitig die 
                                  Ordnung aufrecht, nahm Allende Generäle 
                                  einschließlich Augusto Pinochet in seine 
                                  Regierung auf. Im September inszenierte Pinochet 
                                  einen Putsch, bombardierte Allende in seinem 
                                  Präsidentenpalast und ermordete Tausende 
                                  Arbeiteraktivisten. Während die Arbeiterbewegung 
                                  in Europa von ihren eigenen Führern in 
                                  den Schlaf gewiegt wurde, wurde sie in Lateinamerika 
                                  in Blut ertränkt. Die 
                                  1968 entzündete Flamme sollte noch einmal 
                                  in Europa aufflackern. Seit Ende der 20er Jahre 
                                  war Portugal eine Diktatur mit faschistischen 
                                  Charakterzügen. Aber Mitte der 70er verlor 
                                  es den Krieg zur Kontrolle seiner afrikanischen 
                                  Kolonien. Im April 1974 stürzte ein Putsch 
                                  den Diktator Caetano und ersetzte ihn durch 
                                  Spinola, einen konservativen General, den die 
                                  wichtigen Monopole des Landes unterstützten 
                                  und der eine Regelung der Kriege aushandeln 
                                  wollte. Der 
                                  Zusammenbruch der Diktatur setzte eine wahre 
                                  Kampfeswelle frei. Die großen Werften 
                                  von Lisnave und Setnave wurden besetzt. Bäcker, 
                                  Post- und Flughafenarbeiter traten in Streik. 
                                  Viele Armeegeneräle, die das Risiko der 
                                  Putschorganisation getragen hatten, waren viel 
                                  radikaler als Spinola und verlangten die sofortige 
                                  Beendigung des Krieges, während Spinola 
                                  ihn in die Länge ziehen wollte, bis die 
                                  Befreiungsbewegungen die Bedingungen akzeptierten, 
                                  die die portugiesischen Geschäftsinteressen 
                                  wahren sollten. Die einzig angemessen organisierte 
                                  Untergrundpartei war die Kommunistische Partei. 
                                  Ihre Führer schlossen einen Pakt mit Spinola 
                                  zur Beilegung der Streiks (womit sie sich das 
                                  Misstrauen der meisten mächtigen Arbeitergruppen 
                                  im Bezirk Lissabon einhandelten), traten der 
                                  Regierung bei und versuchten, ihre mittelständischen 
                                  Anhänger in einflussreiche Positionen innerhalb 
                                  der Streitkräfte und der Medien zu hieven. 
                                  Ihr Ziel bestand im eigenen Machtzuwachs durch 
                                  einen Balanceakt zwischen den Arbeitern und 
                                  den Generälen, bis sie stark genug waren, 
                                  ein Regime zu installieren, das dem Muster Osteuropas 
                                  nach dem Krieg folgte. Das 
                                  stellte sich allerdings als undurchführbares 
                                  Manöver heraus. Die Kommunistische Partei 
                                  konnte die Militanz der Lissabonner Arbeiter 
                                  nicht ersticken, die Unzufriedenheit in der 
                                  Armee, die zum Wachstum der linken Kräfte 
                                  führte, nicht beenden und die Panik innerhalb 
                                  des westlichen Kapitalismus angesichts der revolutionären 
                                  Ereignisse an seiner Türschwelle nicht 
                                  beruhigen. Zwei 
                                  gescheiterte rechte Putschversuche führten 
                                  zur Amtsenthebung Spinolas und zu einer weiteren 
                                  Radikalisierung der Arbeiter und Armeeränge. 
                                  Mit Unterstützung der CIA und der sozialdemokratischen 
                                  Regierungen Westeuropas organisierte die Rechte 
                                  eine Serie von Beinahe-Aufständen im ländlichen 
                                  Portugal. Die Armeegeneräle, die tatsächlich 
                                  die militärische Macht ausübten, pendelten 
                                  von einer politischen Option zur nächsten. 
                                  Im November 1975 gelang es einem ranghohen Offizier 
                                  mit sozialdemokratischem Hintergrund, die linken 
                                  Offiziere zu einem halbherzigen Versuch der 
                                  Machtübernahme zu provozieren, den er als 
                                  Rechtfertigung benutzte, mehrere hundert disziplinierte 
                                  Truppen nach Lissabon in Marsch zu setzen, um 
                                  die unzufriedenen Regimenter zu entwaffnen. 
                                  Die Kommunistische Partei, die noch vor ein 
                                  paar Wochen - als ein ihr nahestehender Offizier 
                                  das Amt des Premierministers bekleidete - einen 
                                  so machtvollen Anschein erweckt hatte, unternahm 
                                  keinen Versuch zur Organisation des Widerstandes 
                                  der Arbeiter. Eine Revolution, die den Führern 
                                  des europäischen und amerikanischen Kapitalismus 
                                  im Sommer 1975 Sorgen bereitet hatte, nahm ihre 
                                  Niederlage im Herbst mit kaum vernehmbarem Murren 
                                  hin. A 
                                  hard rain Der 
                                  lange Boom fand im Herbst 1973 sein abruptes 
                                  Ende, als die Wirtschaftssysteme des Westens 
                                  zum ersten Mal seit den 30er Jahren gleichzeitig 
                                  in eine Krise eintraten und die Arbeitslosigkeit 
                                  sich verdoppelte. Das reichte aus, um allerorts 
                                  Panik in den Regierungen und Geschäftskreisen 
                                  zu erzeugen. Die etablierten Wirtschaftswissenschaftler 
                                  hatten nie vermocht zu erklären, wie die 
                                  Krise der 30er Jahre entstehen konnte, und keiner 
                                  von ihnen konnte sich sicher sein, dass man 
                                  nicht vor einer ähnlichen Situation stand. Die 
                                  wirtschaftliche Dynamik lief zwar auch im 'Bleiernen 
                                  Zeitalter‘ weiter, aber statt der Masse 
                                  der Bevölkerung verbesserte Lebensbedingungen 
                                  zu bieten wie im langen Boom, drohte sie, ihr 
                                  zu entreißen, was sie sich in der Vergangenheit 
                                  erarbeitet hatte. Ganze Industriezweige verschwanden, 
                                  und Städte verödeten. Sozialleistungen 
                                  wurden auf das Niveau von 50 Jahren zuvor gestutzt 
                                  - oder in einigen US-Staaten direkt ganz abgeschafft. 
                                  Gleichzeitig feierte eine neue Sorte strammer 
                                  rechter Politiker, die man als 'Thatcheristen‘ 
                                  oder 'Neoliberale‘ kennt, das freie Wirken 
                                  der Marktkräfte und fand damit Anklang 
                                  bei einer Schicht sozialdemokratischer Politiker, 
                                  die eine Rückkehr zu diesen Glaubenssätzen 
                                  aus der Politik des 19. Jahrhunderts als Beweis 
                                  ihrer 'Modernität‘ ansahen. Der 
                                  Ruck nach rechts übte seinen Einfluss auf 
                                  die radikale Linke aus, die durch ihre Niederlagen 
                                  Mitte der 70er Jahre noch immer demoralisiert 
                                  war - und manchmal auch durch die Entdeckung 
                                  der Wahrheit über China und das blutige 
                                  Regime, das die prochinesischen Roten Khmer 
                                  in Kambodscha installiert hatten. Einige zogen 
                                  den Schluss, das ganze revolutionäre Unternehmen 
                                  sei ein einziges Missverständnis gewesen. 
                                  Einige hielten ihre Kritik am parlamentarischen 
                                  Reformismus für überzogen. Einige 
                                  schlussfolgerten, der Klassenkampf gehöre 
                                  der Vergangenheit an. Tatsächlich 
                                  ereigneten sich in den 80er Jahren große 
                                  und teils gewaltsame Klassenkonfrontationen, 
                                  als die Arbeiter versuchten, die Dezimierung 
                                  ihrer Stellen in den alten Industriebranchen 
                                  zu verhindern - der Kampf der Stahlarbeiter 
                                  in Frankreich und Belgien, der ein Jahr währende 
                                  Streik von 150.000 britischen Bergarbeitern 
                                  und ein ebenso langer Streik der britischen 
                                  Drucker, ein fünftägiger Generalstreik 
                                  in Dänemark, ein Streik der Verwaltungsarbeiter 
                                  in den Niederlanden und Britisch-Kolumbien und 
                                  ein eintägiger Generalstreik in Spanien. Aber 
                                  alle diese Kämpfe wurden besiegt, und eine 
                                  Erbschaft aus diesen Niederlagen war der wachsende 
                                  Glaube, die 'altmodischen‘ Methoden des 
                                  Klassenkampfes funktionierten nicht mehr. Er 
                                  veranlasste eine Schicht von Arbeiteraktivisten, 
                                  ihre Hoffnungen wieder einmal auf die Versprechen 
                                  der Parlamentspolitiker zu setzen. Er ermutigte 
                                  auch linke Intellektuelle, schon die Konzepte 
                                  Klasse und Klassenkampf aufzugeben. Sie nahmen 
                                  zu einem Modetrend Zuflucht, der sich 'Postmodernismus‘ 
                                  nennt und behauptet, jede Interpretation der 
                                  Realität sei genauso wertvoll wie eine 
                                  beliebige andere, es gebe keine objektive Grundlage 
                                  für Begriffe wie Klasse, und jeder Versuch, 
                                  die Funktionsweise der Gesellschaft zu verändern 
                                  sei 'totalitär‘, weil er darauf hinauslaufe, 
                                  eine Gesamtauffassung von der Welt über 
                                  andere zu stellen. Postmodernisten lehnten die 
                                  Vorstellung von einem Kampf für gesellschaftliche 
                                  Veränderung ab, gerade als die gefährliche 
                                  Instabilität der Gesellschaft sich immer 
                                  deutlicher abzeichnete. Chris 
                                  Harman ist Mitglied der britischen SWP, International 
                                  Socialist Tendency  |