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Ungarn 1956:
eine Revolution wird entstellt

von Charles-André Udry* aus INPREKORR 420/421, November/Dezember 2006


Am 22. Juni 2006 schrieb die französische Tageszeitung Le Monde: „Aus Wien kommend, wo er am euro-amerikanischen Gipfel teilgenommen hatte, feierte George W. Bush am 22. Juni in Ungarn den fünfzigsten Jahrestag des Aufstandes von Budapest gegen die sowjetische Vorherrschaft“. Tatsächlich kam es im Juni 1956 in Ungarn zu einer bedeutsamen Wende. Es scheint uns anlässlich der politischen Vereinnahmung jenes „Gedenkens“ nützlich zu sein, die wichtigsten Grundzüge jener „Revolution“ herauszuarbeiten und die Reaktionen der Linkskräfte in der Schweiz nachzuzeichnen.

Im Oktober 1956 bricht die ungarische Revolution aus. Leslie Bain, einer der wenigen westlichen Journalisten, die das Land und seine Sprache kannten und der sich 1956 dort aufhielt, schrieb 1960: „In der jüngeren Geschichte wurde über kein Ereignis so viel gelogen, wurde kein Ereignis so entstellt und entehrt wie die ungarische Revolution“.1

Leslie Bain zeigte auf, wie die Propaganda-Apparate in Ost und West während des Kalten Krieges in jeweils vergleichbarer Weise funktionierten. Im Westen sprach man strikt von einer nationalistischen Revolte gegen die kommunistische Diktatur, im Osten von einem reaktionären Komplott.

EINE NEUE DEMOKRATIE

Einer der charakteristischen Züge jener Revolution – der Drang hin zu einer neuen und demokratischen Gesellschaftsordnung – wurde sorgfältig verschwiegen. Ein Blick auf die Presse von 1956 in der französischsprachigen Schweiz bestätigt diese Feststellung – mit einer bemerkenswerten Ausnahme.

Fünfzig Jahre später wird das Studium der ungarischen Revolution durch die Arbeiten des Instituts für die Geschichte der ungarischen Revolution von 1956 in Budapest bedeutend erleichtert. Es veröffentlichte 1991 eine erste Synthese, die 1996 im Hinblick auf die englische Ausgabe noch erweitert wurde: The Hungarian Revolution of 1956. Reform, Revolt and Repression 1953-1963.2

In diesem Band kann man lesen: „Die Idee einer revolutionären Demokratie, wie man sie zu jener Zeit nannte, war keineswegs auf die Herausbildung einer Regierung aus mehreren Parteien und auf das Entstehen von politischen Parteien im Bereich der öffentlichen Angelegenheiten beschränkt. Die Errichtung von Institutionen der Basisdemokratie in den Fabriken und in den Gemeinden hatte bei den Zielen der Revolution einen nicht weniger wichtigen Platz. (...) Seit den ersten Tagen der Revolution waren die Arbeiterräte politisch bedeutsam und sie stellten auch das Instrument zur Erarbeitung von gesellschaftspolitischen Programmen dar. Im Verlauf der „Kämpfe der Nachhut“ (nach der zweiten sowjetischen Intervention) im November und Dezember waren die Räte fast die einzigen Widerstandszentren. (...) Ein wichtiges Element des Denkens und der politischen Aktion im Jahr 1956 war die Beziehung zwischen der Basisdemokratie und dem parlamentarischen System, die Kooperation zwischen den Fabrikräten und den örtlichen Komitees mit den Organen der Regierung und der Partei auf nationaler Ebene.“3

So ergab sich die Möglichkeit eines institutionellen, sozialen und wirtschaftlichen „dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Stalinismus. Sicherlich wären diese Entwicklungen in ihrem Verlauf an zahlreiche Wegscheiden gekommen. Aber 1956 wurden diese Möglichkeiten einfach zerstört. Die Anhänger eines demokratischen und selbstverwalteten Sozialismus erkannten damals das Ausmaß ihrer Niederlage in historischer Sicht nicht.

Wir möchten hier den Schwerpunkt auf diese Dimension der „revolutionären Demokratie“ legen, einerseits, weil sie bis heute wenig bekannt ist, andererseits, weil die damaligen internationalen Ereignisse (die Suez-Krise) oder die Rolle der „faschistischen Kräfte“ in zahlreichen Studien untersucht worden sind, die zeigen, dass ihre Wirkung auf die spezifische Dynamik jenes landesweiten Aufstandes gleich Null gewesen ist.

EINE HALB-OFFIZIELLE OPPOSITION

Eine solche Bewegung der Selbstorganisation setzt einen sozialen, politischen und kulturellen Reifungsprozess sowie die Diskreditierung Misskredit der offiziellen, autokratischen Organe der Staatsmacht voraus.
Im März 1955 wurde Imre Nagy (geb. 1896, am 18. Juni 1958 erschossen), der 1953 zur Vermeidung einer Krise an die Macht gekommen war, seiner Funktionen entbunden und von Mátyás Rákosi, dem neuen Regierungschef und Generalsekretär der Partei, angegriffen. Eine wenig organisierte Gruppe von Schriftstellern, Journalisten und Mitgliedern der KP bildete sich um Nagy.

Erstmals existierte in einem osteuropäischen Land eine dauerhafte Opposition in und am Rande der offiziellen Strukturen. Sie sollte von der „öffentlichen Meinung“ als eine mögliche alternative Regierung betrachtet werden. Die kommenden Mobilisierungen verfügten über ein einigendes politisches Ziel: die Rückkehr von Nagy an die Macht.

In der Schweizer Presse der Linken gab es zwei unterschiedliche Betrachtungsweisen dieser Situation: Die eine fand sich in Le Peuple, dem Organ der Sozialistischen Partei. Jules Humbert-Droz4 analysierte dort die Gründe für Nagys Sturz: „Die Regierung Imre Nagy hatte das Polizeiregime von Rákosi heftig angegriffen, und Zehntausende von kommunistischen und sozialistischen Arbeiterinnen aus den Gefängnissen und den Konzentrationslagern befreit.“ (17. März 1955) Am 17. Juli 1955 finden wir eine globalere Einschätzung: „Die Verhaftungen, die Verurteilungen, die Regierungswechsel, die sich in den kommunistischen Regionen Osteuropas abspielen, sind nur ein Wiederschein der Kämpfe der arbeitenden Massen für ihre Freiheit und ihr Wohlergehen.“

Die andere Betrachtungsweise stand in La Voix ouvrière, dem Organ der Schweizer Partei der Arbeit: „Die Rechtsabweichungen des Genossen Imre Nagy zeigten sich in der Unterschätzung und der Verleugnung der großartigen Siege der Partei, die er regelmäßig verschwieg. (...) Die rechtsgerichteten Konzeptionen wurden für unsere Partei und unseren Staat zu einer Gefahr, nicht nur, weil der Genosse Imre Nagy in seinen Reden und Artikeln antimarxistische Konzeptionen vertrat, sondern weil er sogar ihr Sprecher war.“ (18. März 1955)

Der Bleimantel der „Normalisierung“ schien damals gewirkt zu haben; aber das Rákosi-Regime wurde auch 1955 weiter herausgefordert.

DER BUDAPESTER FRÜHLING

1956 brach dann der „Budapester Frühling“ aus. Seit März gab es immer mehr Gerüchte über den Geheimbericht von Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU. Darin hatte Chruschtschow einen Teil von „Stalins Verbrechen“ vorgestellt.

Zwei Minen wurden nun Rákosi unter die Füße gelegt. Die Wiederannäherung zwischen Chruschtschow und Tito 1955 nahm den Prozessen von 1949 gegen namhafte Parteimitglieder, darunter László Rajk, jede Glaubwürdigkeit. Denn „die titoistischen Abweichungen“ waren die wesentliche Begründung der Anklage gewesen! Sodann löste die Anerkennung von „Stalins Verbrechen“ Nachfragen zu den Repressionsmaßnahmen aus, die die ungarische KP in den Jahren 1947/48 selbst durchgeführt hatte.

Die Forderung nach einer Rehabilitierung von Lázló Rajk – die auf einem öffentlichen Treffen am 27. Juni 1956 von seiner Witwe Julia Rajk erhoben wurde – führte zur ersten riesigen öffentlichen Demonstration der Opposition in Ungarn nach dem Krieg: der offiziellen Beerdigung von Lázló Rajk am 6. Oktober 1956.

Seit März und vor allem seit Juni 1956 führten Intellektuelle, Schriftsteller und Parteimitglieder öffentliche Debatten in den Versammlungen des Petöfi-Zirkels. Am 27. Juni sollten 6 000 Personen an einer Diskussion des Zirkels über ein Thema der Presse teilnehmen. Auch in den Fabriken begannen Diskussionen. Es entstand im Land ein „zweites politisches Zentrum“, wie die Leitung der Einheitspartei schrieb und es verurteilte.
Am 28. Juni 1956 brach in Posen (Polen) ein Arbeiteraufstand aus, der mit aller Härte niedergeschlagen wurde. Er sollte in Ungarn zu einem Signal der Annäherung werden.

Mátyás Rákosi (1892-1970) versuchte die Unterdrückung des Aufstandes von Posen zu nützen, um in Ungarn eine Repressionswelle zu starten. Eine Liste mit 400 „oppositionellen Elementen“ wurde erstellt. Doch es läuteten bereits die Alarmglocken. Um den Ausbruch einer offenen Krise zu verhindern, entschieden Suslow und Mikojan, die von der KPdSU geschickt worden waren, Rákosi durch Ernö Gerö (1898-1980), seine rechte Hand, zu ersetzen; als Mann der Reserve machte Janos Kadar (1912-1989) seinen Aufstieg zum Parteiführer. Doch dieses Facelifting sollte nicht ausreichen.

EINE UNABHÄNGIGE BEWEGUNG

Am 16. Oktober wurde von StudentInnen eine unabhängige Massenorganisation gegründet, die MEFESZ (Bund der Studentenverbindungen der ungarischen Universitäten und Gymnasien). Somit trat eine von den Strukturen der Staatspartei unabhängige Massenorganisation auf den Plan, die eine eigene Zeitung herausgab. Bill Lomax hat die Konsequenzen unterstrichen: „Die Oppositionsbewegung, die von den SchriftstellerInnen zu den Organisatoren des Petöfi-Zirkels übergegangen war, fiel nun in die Hände der StudentInnen“.5

Die Plattform der MEFESZ enthielt Schlüsselforderungen: Wahl einer neuen Parteiführung, Führung der Regierung durch Imre Nagy, Neuwahlen, eine neue Wirtschaftspolitik, Neubestimmung der Arbeitsnormen in den Fabriken und Autonomie der Arbeiterorganisationen, Revision der Prozesse und Amnestie, Pressefreiheit. Hinzu kamen laut Beschlüssen der im ganzen Land abgehaltenen Versammlungen die Einführung des Mehrparteiensystems und der Rückzug der in Ungarn stationierten sowjetischen Truppen.

Am 22. Oktober riefen die StudentInnen für den 23. zu einer Großdemonstration auf. Sie sollte alle Sektoren der Gesellschaft umfassen, sogar Soldaten! Um 9 Uhr abends wandte sich Imre Nagy vor dem Parlamentsgebäude an die Menge. Er verlangte von den Demonstrierenden, nach Hause zu gehen und versprach ihnen, alles zu tun ... um sein Programm von 1953 umzusetzen. Nagy war überzeugt, dass alles im Rahmen der Partei gelöst werden müsse, wobei er – jedes Mal mit einiger Verzögerung – anerkennen musste, dass es einen massiven Druck von Seiten der Bevölkerung gab. Nach dieser Rede war die Enttäuschung der DemonstrantInnen groß. Die Parole „Jetzt oder nie“ wurde weithin aufgegriffen. Mithilfe von Lastwagen rissen DemonstrantInnen die riesige Stalin-Statue vom Sockel ... wobei nur die Stiefel auf dem Sockel zurückblieben. Andere versuchten, ins Gebäude der Rundfunkanstalt einzudringen, um die Plattform der StudentInnen ausstrahlen zu lassen. Die Sicherheitskräfte schossen in die Menge.
Nun begann die militärische Konfrontation. Die Soldaten gaben ihre Waffen ab, weitere wurden ohne große Schwierigkeiten in den Kasernen beschlagnahmt. Im ganzen Land breitete sich ein Generalstreik aus.

Die Führung von Partei und Armee, die sich unsicher war, wie sich die ungarischen Truppen verhalten würden, verlangte nach einem Eingreifen der sowjetischen Streitkräfte. Als die alte Welt „dabei war, unterzugehen“, trat die Führung der Partei zusammen... und Nagy suchte in diesem Rahmen nach Lösungen. Aber erst am Mittag des 24. Oktober verkündete er, dass der Ausnahmezustand nicht sofort ausgerufen würde, dass aber die Waffen niedergelegt werden müssten.

DIE KRAFT DES AUFSTANDES

Doch die Massenbewegung hatte bereits ihre eigene Dynamik erlangt. „Die Kämpfenden waren im Wortsinne bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Darin lag wohl der wichtigste Grund, weshalb die politische Führung keinen Kompromiss durchsetzen konnte und weshalb es ihr nicht gelang, mit Teilreformen die Ordnung wieder herzustellen. Der andere entscheidende Grund lag in der revolutionären Bewegung von unten und in der Selbstorganisation der Bevölkerung auf allen Ebenen.“6

Vom 24. bis 28. Oktober konnte die sowjetische Armee ihre Ordnung nicht durchsetzen. Zu Beginn gab es Verbrüderungsszenen. Aber am 25. Oktober kam es vor dem Parlament zu einer Schießerei mit zahlreichen Toten. Dies war die Wende. Während vier Tagen waren die Kämpfe hart. Die „aufständischen“ Truppen hatten höchstens 15 000 Mann zur Verfügung. Der Aufstand weitete sich auf das ganze Land aus, mit sozio-ökonomischen, demokratischen und mit Forderungen nach nationaler Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion. Am 28. Oktober wurde angesichts des Ausmaßes des bewaffneten und zivilen Widerstandes der Rückzug der sowjetischen Truppen beschlossen, die nicht stark genug waren, eine schnelle Entscheidung zu erzwingen. Dies war ein trügerisches Zeichen des Sieges. Heute wissen wir, dass es eine taktische Entscheidung war, die im Einklang mit Kadar getroffen wurde. Ab dem 27. Oktober übernahm Nagy den Vorsitz der Regierung, die das Ausmaß der Erhebung der Gesellschaft überhaupt noch nicht wirklich verstanden hatte.

Die Dynamik der Revolution von diesem Oktoberende tauchte in den Leitartikeln der untersuchten Presse nicht auf. In Le Peuple schrieb der Chefredakteur Lucien de Dardel: „und sogar der Eintritt von zahlreichen Nicht-Kommunisten (oder sogar Antikommunisten) in die Regierung Nagy bedeutet, dass sich Ungarn nun in einem Stadium befindet, das jenes von Titos Jugoslawien hinter sich lässt. Wenn sich der Verlauf der Ereignisse im Geist der Revolution hält, dann läuft Ungarn auf ein wirklich demokratisches und parlamentarisches Regime zu, vielleicht sogar auf einen wirklichen demokratischen Sozialismus westlichen Typs.“ (30. Oktober) G. Rigassi betonte in der Gazette de Lausanne: „Die Aufstände in Polen und Ungarn bedeuten einen Misserfolg des sowjetischen „Kolonialismus“ und dieser Misserfolg ist in weiten Teilen der von der Jugend gespielten Rolle geschuldet.“ (27/28. Oktober) Jean Vincent suchte in La Voix ouvrière nach dem « Irrtum », der alles rechtfertigt: „Es müssen sehr schwere Fehler begangen worden sein, kapitale Fehler in allen Bereichen, den wirtschaftlichen, politischen und moralischen (ja, den moralischen), damit die sowjetische Intervention in Ungarn als notwendig angesehen werden konnte.“ (30. Oktober)

Vom 28. Oktober bis zum 4. November, dem Datum der zweiten sowjetischen Intervention, entwickelten sich vier Elemente:

1. Am 31. Oktober begann die Zentralisierung der Arbeiterräte. Die Forderungen waren klar: Die Unternehmen gehören den Arbeitenden; der Rat ist das demokratisch gewählte Kontrollorgan; der Direktor wird gewählt; Löhne, Arbeitsmethoden, Verträge mit dem Ausland (UdSSR) müssen dem Rat vorgelegt werden; die Einstellungen und Entlassungen liegen in seiner Kompetenz; über den Gebrauch der Profite muss vom Rat entschieden werden.7 Dieses Programm zeigt eine Sicht der Gesellschaft, die wenig mit der Idee einer Rückkehr zum Regime der Vorkriegszeit zu tun hat. Die Verbindung zwischen den Arbeiterräten und den lokalen Revolutionskomitees war sehr eng. Eine in der Gazette de Lausanne veröffentlichte Depesche zeigte in ihrer Formulierung das geistige Anliegen: „Diese revolutionären Komitees wünschen sich eine Liberalisierung des Regimes und fordern, dass Ungarn weiterhin eine kommunistische Politik macht.“ (29. Oktober)

2. Das Gravitationszentrum der offiziellen Macht ging eindeutig von der Partei auf die neue Regierung Nagy über. Die Verhandlungen zwischen Nagy und den etwas skeptischen Räten kamen im Hinblick auf eine Beendigung des Streiks und eine Konsolidierung der Lage voran.

3. Janos Kadar baute eine neue Partei auf, die als antistalinistisch eingestuft wurde, die MSZMP (Sozialistische Partei der ungarischen Arbeiter). Sie sollte als Hebel zur Errichtung einer neuen Staatsmacht herhalten, nachdem die sowjetische Armee die „Ordnung wiederhergestellt“ hatte.

4. Die Regierung Nagy verlangte die Anerkennung der ungarischen Neutralität, eine Forderung, die in Ungarn auf großes Echo stieß. Bei der „internationalen Gemeinschaft“ stieß sie auf taube Ohren.

DIE RÄTE ZERBRECHEN

Ab dem 4. November, dem Datum der zweiten sowjetischen Militärintervention, antwortete die Bevölkerung mit einem Generalstreik, der sicherlich der vollständigste und einigste war, den es in der Geschichte bisher gegeben hat. Der militärische Widerstand, der sich vor allem auf die Jugendlichen in den Arbeitervierteln stützen konnte, dauerte etwa sechs Tage.

Die Koordination der Räte wurde zum Zentrum des Widerstandes. Ab dem 12. November funktionierte eine offizielle und zentralisierte Struktur als Gegenmacht mit Bulletins und Flugblättern. Die wichtigsten Forderungen lauteten wie folgt: sofortiger Rückzug der sowjetischen Truppen, Pressefreiheit, Kontrolle über Polizei und Armee, um das Eindringen von Agenten der AVH (politische Polizei) zu verhindern, Amnestie für alle Zivilisten und Militärs, die sich am Aufstand beteiligt haben.

Die Repräsentativität des Zentralkomitees der Räte von Groß-Budapest (KMT) ist so groß, dass Kadar, der im Tross der sowjetischen Armee ankam, mit ihm verhandeln muss. Am 14./15. November fand ein Treffen statt. Zu den diskutierten Themen gehörten: die Ausdehnung eines Systems von Räten auf die nationale Ebene, das Streikrecht und der Rückzug der sowjetischen Truppen. Auf die erste Forderung antwortete Kadar, „dass nichts von dieser Art irgendwo existiere und dass eine solche Struktur in einer Volksdemokratie überflüssig ist“.8

Die Delegierten der Räte blieben entschlossen bei ihrer Position. Die Repression wurde daher zur wichtigsten Waffe der Bürokratie. Am 27. November 1956 gab die Führung des KMT das wichtigste Anliegen der Stunde vor: „Die Fabriken befinden sich in unseren Händen, den Händen der Arbeiterräte. Die Regierung weiß das und will vor allem damit Schluss machen.“9 Die Verhaftung der repräsentativsten Führer des KMT führte zum Generalstreik des 11./12. Dezember. Die Repression verschärfte sich. Am 5. Januar 1957 wurde denjenigen, die die Arbeit verweigerten oder „Streiks provozier[t]en“, die Todesstrafe angedroht. Die Zahl der politischen Flüchtlinge stieg auf etwa 200 000 Personen.

DIE GEDRUCKTE GESCHICHTE ...

Am 23. November 1956 wurde in La Voix ouvrière erstmals Kadar das Wort erteilt: „Die konfuse Lage brachte es mit sich, dass die demonstrierenden Menschen nicht gegen den Sozialismus, den Sinn des Sozialismus waren, wohingegen in ihren Taten die Orientierung der Bewegung offensichtlich konterrevolutionär war. Die Konterrevolutionäre, die hinter der Bewegung standen, arbeiteten mit großer Gewitztheit.

Vielleicht wurde niemals eine Konterrevolution mit solcher Gewandtheit versucht.“ Gegen Kadars „Erklärungen“ standen diejenigen, die Jean Vincent in La Voix ouvrière im Verlauf dieser tragischen Monate geliefert hatte. Man konnte eine solche Rechtfertigung der Intervention noch im Jahre 1986 finden: „Recht schnell waren es solche Menschen wie der Kardinal Mindszenty und frühere Schüler von Horthy, die den Aufständen eine alles andere als demokratische Orientierung aufdrängten, wobei ihnen etwa 3'500 Kriegsverbrecher, die man aus dem Gefängnis entlassen hatte, zu Hilfe kamen.“ (VO-Réalités, 30. Oktober-5. November 1986.)

La Gazette de Lausanne brachte ihre Bilanz der ungarischen Revolution aus der Feder von Georges Rigassi: „Wenn das ungarische Volk auf so spontane und so einheitliche Weise gegen die sowjetische Repression gehandelt hat, dann, so meinen wir, weil es sich mit der Geschichte der Christenheit verbinden wollte, um seine spirituelle Integrität zu retten; es wollte die Tradition der Freiheit und des Respekts vor der menschlichen Person, die es mit dem westlichen Europa teilt und die der Marxismus ihm geraubt hatte, wieder in Besitz nehmen.“ (12./13. Januar 1957)

In Le Peuple zeigte Humbert-Droz ein Verständnis, das ein ganz anderes war als das der anderen Redakteure. Am 13. Dezember 1956 schrieb er: „Nachdem der Zentralrat der Arbeiterinnen nach der brutalen Weigerung der Regierung, den legitimen Forderungen der Arbeitenden Recht zu geben, neuerlich den Generalstreik ausgerufen hatte, beschloss Kadar, die Arbeiterräte zu verbieten und aufzulösen. Gegen sie entfesselten die vereinten Kräfte der ungarischen Polizei und die russischen Besatzungstruppen ihre wilde Repression, nachdem das Kriegsrecht ausgerufen worden war. Die Arbeiterräte haben bei der Entwicklung der Lage in Ungarn eine entscheidende Rolle gespielt. (...) Im Verlauf der sieben Kampfeswochen haben sie Forderungen formuliert, deren Charakter deutlich revolutionär war. In der spontanen und häufig ungeordneten Erhebung des Volkes waren sie mit den StudentInnen und den Intellektuellen das bewusste Element, welches die Massenbewegung auf genaue Ziele hinorientierte; sie spielten die Rolle, die die Sowjets zu Beginn der russischen Revolution gespielt haben. Wenn sich zuerst die Regierung Nagy und später die Regierung Kadar auf die Arbeiterklasse stützen und ihr Vertrauen hätte gewinnen wollen, dann hätten sie ihre Macht auf die Arbeiterräte gründen müssen. Es fehlte nicht an Gelegenheiten, solches zu tun. Die Arbeiterräte haben versucht, aus der Regierung die Sprecherin ihrer Interessen zu machen. Die Regierungen haben ihnen dies abgeschlagen. (...) Die Bürokratie ist unfähig, ihre Privilegien selbst zu zerstören und das Regime von oben zu verändern.“

*Charles-André Udry, Redakteur der Online-Zeitschrft „A l’encontre“ ist Mitglied der IV. Internationale und lebt in Lausanne (Schweiz)


Übersetzung aus dem Französischen: Paul B. Kleiser

1 Leslie Bain, The Reluctant Satel¬lites, London 1960, S. 97.

2 The Hungarian Revolution of 1956. Reform, Revolt and Repres¬sion 1953-1963, edited by Gy¬örgy Litván, Logman 1996, 221 Seiten.

3 Ebenda, S. 74f.

4 Jules Humbert-Droz, früheres Mitglied der Kommunistischen Partei der Schweiz und der Kom¬munistischen Internationalen; 1943 trat er der Sozialistischen Partei bei und wurde 1947 natio¬naler Sekretär der Parti socialiste suisse (PSS).

5 Bill Lomax, Hungary 1956, Alli¬son & Busby, 1976. S. 46

6 György Litván, op. cit., S. 65..

7 Jean-Jacques Marie und Balazs Nagy, Pologne-Hongrie 1956, Pa¬ris (EDI) 1966, S. 203f.

8 György Litván, op. cit., S. 110.

9 György Litván, op. cit., S. 111.