| Zuallererst 
                                  einmal: Was ist die BFS, woher kommt sie und 
                                  wie sieht ihre praktische Arbeit aus?  Wir 
                                  sind eine Gruppe von politisch aktiven Menschen 
                                  in den fünf größten Städten 
                                  (Zürich, Basel, Bern, Lausanne, Genf), 
                                  die an der Entwicklung einer neuen demokratischen 
                                  und sozialistischen Linken arbeiten. Die BFS 
                                  erarbeitet inhaltliche Positionen zu sozialen 
                                  Fragen, z.B. in der Gesundheitspolitik, und 
                                  beteiligt sich an Aktionen wie den Protesten 
                                  gegen G8 oder gegen das WEF in Davos. Wir unterstützen Arbeitskämpfe und 
                                  versuchen zu verstehen, worum es dabei geht. 
                                  Wir gehen davon aus, dass mit dem Siegeszug 
                                  der kapitalistischen Globalisierung eine lange 
                                  historische Phase des Klassenkampfes zu Ende 
                                  ging, die im 19. Jahrhundert mit der Gründung 
                                  von Gewerkschaften und Parteien der Arbeiterklasse 
                                  begonnen hatte.
 Die Möglichkeit und Wünschbarkeit 
                                  einer Gesellschaft jenseits des Kapitalismus 
                                  müssen neu formuliert und begründet 
                                  werden, dasselbe gilt für die Frage nach 
                                  den "Wegen dorthin". Alle traditionellen 
                                  politischen Strömungen der Linken sind 
                                  heute bis zu einem gewissen Grad "überholt" 
                                  und müssen kritisch in Frage gestellt werden. 
                                  Das gilt auch für die trotzkistische Strömung, 
                                  aus der die BFS teilweise hervorgegangen ist. 
                                  Wir können aus der Geschichte lernen, aber 
                                  die Geschichte wird sich (zum Glück) nicht 
                                  wiederholen.
 Am 21. Oktober finden in der Schweiz Parlamentswahlen 
                                  statt. Wohin geht der Trend?
 Vermutlich 
                                  werden die Schweizerische Volkspartei (SVP) 
                                  und die Grünen, die bereits vor 4 Jahren 
                                  zu den Siegern gehörten, nochmals zulegen. 
                                  Es wird aber keine allzu großen Verschiebungen 
                                  zwischen den Parteien geben. Ein starker Trend ist die zunehmende "Amerikanisierung" 
                                  des Wahlkampfs, die dazu führt, dass Politik 
                                  immer mehr zu Marketing und massenmedialer Show 
                                  verkommt. Es geht nicht um Programme und Positionen, 
                                  die etwas mit den Alltagsproblemen der Menschen 
                                  zu tun haben, sondern um Politstars und deren 
                                  Persönlichkeitsprofile.
 Die zentrale Figur des Wahlkampfs ist der SVP-Bundesrat 
                                  Christoph Blocher. Die Sozialdemokratie (sozialliberal 
                                  wäre der treffendere Ausdruck) versucht 
                                  sich als "Anti-Blocher-Partei" zu 
                                  profilieren. Die Massenmedien greifen sensationslüstern 
                                  die Rede von einem "Putschversuch" 
                                  auf, bei dem es scheinbar darum geht, Blocher 
                                  aus dem Bundesrat raus zu werfen.
 In einem Land, das seit der Staatsgründung 
                                  von 1848 keinen Regierungswechsel erlebt hat, 
                                  hat der Begriff "Putsch" offensichtlich 
                                  eine etwas abgeschwächte Bedeutung…
 Diese ganze Show hat nicht viel mit der tatsächlichen 
                                  Politik zu tun, welche die Regierungsparteien 
                                  (SVP, CVP, FDP, SP) gemeinsam betreiben. Da 
                                  gibt es zum Beispiel seit langen Jahren einen 
                                  ausländerfeindlichen Konsens, der aus zwei 
                                  zentralen Punkten besteht: Erstens dürfen 
                                  nur die Menschen in die Schweiz kommen, welche 
                                  "unsere Wirtschaft" braucht. Zweitens 
                                  müssen sich die Zugewanderten an "unsere 
                                  Kultur"’ anpassen (Assimilation ist 
                                  hier das treffendere Wort als das modische "Integration"). 
                                  Die SPS akzeptiert diese Politik, kritisiert 
                                  aber gleichzeitig die SVP von Christoph Blocher, 
                                  sie sei ausländerfeindlich.
 Während sich (vom Sonderfall Belgien 
                                  einmal abgesehen) überall sonst in Westeuropa 
                                  rechtspopulistische Parteien im Abschwung befinden 
                                  oder auf mittlerem Niveau (irgendwo zwischen 
                                  5% und 10%) stagnieren, ist die Schweizerische 
                                  Volkspartei (SVP) unter Christoph Blocher mit 
                                  26% stärkste Partei der Schweiz. Woran 
                                  liegt das und welche Konsequenzen hat es?
 Die 
                                  Konsequenzen sind, dass es der SVP gelingt, 
                                  den Rahmen und die Schwerpunkte der politischen 
                                  Diskussion zu bestimmen. Das sehen wir vor allem 
                                  bei der unerträglichen Debatte über 
                                  ‚kriminelle Ausländer’ und 
                                  andere "Sozialschmarotzer", an der 
                                  sich sämtliche Parteien beteiligen.Hier greifen Ausländerfeindlichkeit und 
                                  Sozialrassismus systematisch ineinander. Die 
                                  Ursachen sind in der Art und Weise zu suchen, 
                                  wie es dieser Partei in den 1990er Jahren geglückt 
                                  ist, die mit der Zuspitzung der sozialen Krise 
                                  verbundenen Unsicherheiten zu instrumentalisieren 
                                  und "Ruhe und Ordnung" zu versprechen. 
                                  Erst dadurch ist sie zur stärksten Partei 
                                  des Landes geworden.
 Der Vergleich mit anderen "rechtspopulistischen 
                                  Parteien" in Westeuropa kann allerdings 
                                  in die Irre führen. In mancherlei Hinsicht 
                                  erinnert Blocher nicht so sehr an Haider oder 
                                  Le Pen, sondern an Berlusconi oder Sarkozy. 
                                  Er ist ein Großindustrieller. Seine Partei 
                                  vertritt sehr deutlich wirtschaftsliberale Positionen 
                                  (mit Ausnahme der Landwirtschaftspolitik, in 
                                  der sie eine traditionelle Klientel bei Laune 
                                  halten will).
 Schließlich darf nicht vergessen werden, 
                                  dass die SVP allem "Oppositionsgehabe" 
                                  zum Trotz seit Jahrzehnten stark in die staatlichen 
                                  Institutionen und in die politische Elite integriert 
                                  ist. Sie wurde bereits 1929 in den Bundesrat 
                                  aufgenommen, als sie noch Bauern-, Gewerbe- 
                                  und Bürgerpartei hieß.
 Blocher hat die Partei in den 1980er Jahren 
                                  modernisiert und an die Methoden des Politmarketings 
                                  herangeführt. Er ist kein Outsider, wie 
                                  er selbst gerne behauptet, sondern Teil dieser 
                                  Classe politique (politischen Klasse), über 
                                  die er immer herzieht.
 Die Schweiz gilt sozio-ökonomisch stets 
                                  als "Insel der Seligen". Die Arbeitslosenrate 
                                  liegt bei 2,5% und das Pro-Kopf-Einkommen gehört 
                                  zu den höchsten der Welt. Bislang schien 
                                  "Sozialer Friede" zu herrschen. Doch 
                                  in letzter Zeit liest man z.B. in der "Neuen 
                                  Zürcher Zeitung" immer häufiger 
                                  von drohenden Arbeitskämpfen und gewerkschaftlichen 
                                  Aktivitäten. Wie ist die soziale Situation 
                                  bei euch?
 Das 
                                  Ausmaß der sozialen Probleme in der Schweiz 
                                  wird seit Jahrzehnten systematisch unterschätzt. 
                                  Trotz einiger Besonderheiten - etwa das Fehlen 
                                  von Großstädten wie Berlin oder Paris, 
                                  in denen das soziale Elend deutlich sichtbar 
                                  wird, oder das Gewicht des Finanzsektors - stellt 
                                  sich die soziale Frage hier nicht grundsätzlich 
                                  anders als in Deutschland, Frankreich oder Italien. 
                                  Die Schweiz zählt weltweit zu den Ländern 
                                  mit der höchsten Ungleichheit der Reichtumsverteilung. 
                                  Die Caritas schätzt, dass in der Schweiz 
                                  eine von acht Personen (etwa eine Million Menschen) 
                                  arm ist. Es gibt 250.000 Working Poor unter 
                                  den 4 Millionen Erwerbstätigen.
 Hinzu kommen wohl etwa gleich viele Sans Papiers 
                                  (d.h. Leute ohne gültige Aufenthaltserlaubnis). 
                                  Der Vergleich der Arbeitslosenrate mit den Nachbarländern 
                                  hinkt, weil die Schweiz eine sehr liberale Tradition 
                                  des Arbeitsrechts und der sozialstaatlichen 
                                  Einrichtungen kennt, so wie die angelsächsischen 
                                  Länder.
 Die US-amerikanische Arbeitslosenrate liegt 
                                  auch tiefer als die deutsche oder französische; 
                                  dennoch würde niemand ernsthaft behaupten, 
                                  dies sei ein Beweis dafür, es handle sich 
                                  um eine "Insel der Seligen".
 In einem solchen Regime werden die Menschen 
                                  viel stärker entweder in "zumutbare 
                                  Arbeit" (Jobs unter schlechten Bedingungen, 
                                  oft Minijobs) gedrängt oder verschwinden 
                                  ganz einfach vom Arbeitsmarkt.
 Prekäre Beschäftigung breitet sich 
                                  in der Schweiz aus, und es existiert auch das 
                                  Phänomen, das Robert Castel als "Destabilisierung 
                                  der Stabilen" beschreibt.
 Es finden wieder vermehrt Arbeitskämpfe 
                                  statt, wenn auch ausgehend von einem sehr tiefen 
                                  Niveau. Die Gewerkschaften sind leider nicht 
                                  so kämpferisch und stark, wie es die bürgerliche 
                                  Presse (und die Gewerkschaftsführungen 
                                  selbst) immer wieder behaupten.
 Eine wichtige Auseinandersetzung hat soeben 
                                  in der Bauwirtschaft begonnen. Die Arbeiter 
                                  streiken hier gegen Verschlechterungen bei Arbeitszeit 
                                  und Lohn, nachdem die Unternehmer den Tarifvertrag 
                                  gekündigt haben. Es handelt sich um eine 
                                  Branche, die besonders seit der Einführung 
                                  der so genannten "Personenfreizügigkeit" 
                                  in den Bilateralen Verträgen mit der EU 
                                  unter einem starken Lohndruck steht. Der Streik 
                                  ist aber defensiv ausgerichtet, und die Gewerkschaft 
                                  hört nicht auf, die "Sozialpartnerschaft" 
                                  zu beschwören.
 In Deutschland und den Niederlanden beispielsweise 
                                  befinden sich linkssozialdemokratische Parteien 
                                  auf dem Höhenflug. Wie steht es mit der 
                                  politischen Linken in der Schweiz? Gibt es bei 
                                  euch ähnliche Entwicklungen?
 Es 
                                  gibt die Grünen, die in den letzten Jahren 
                                  Wählerstimmen gewonnen haben und in den 
                                  Bundesrat wollen. Sie sind mehrheitlich bereits 
                                  stark an die bestehende Regierungspolitik angepasst. 
                                  Daneben existieren in einzelnen Städten 
                                  oder Landesteilen linke Parteien, die auf Bundesebene 
                                  wenig Einfluss haben (einige haben sich deshalb 
                                  den Grünen angeschlossen). Ansätze 
                                  für eine neue Linke, die den Kapitalismus 
                                  in Frage stellt, sind höchstens im außerparlamentarischen 
                                  Spektrum vorhanden. Vor einigen Tagen gelang es der autonomen Linken, 
                                  die zentrale SVP-Wahlkundgebung auf dem Berner 
                                  Bundesplatz durch militantes Vorgehen zu verhindern. 
                                  Es kam zu schweren Zusammenstössen mit 
                                  der Polizei. In solchen Momenten hat man den 
                                  Eindruck, in der Schweiz findet jetzt das statt, 
                                  was es Anfang / Mitte der 80er Jahre in Westdeutschland 
                                  gab. Wie seht ihr die autonome Bewegung in der 
                                  Schweiz?
 Die 
                                  Schweiz hat damals durchaus eine starke "autonome 
                                  Jugendbewegung" erlebt, die sich z.B. im 
                                  Zürcher "Opernhauskrawall" niederschlug 
                                  (die Jungen protestierten gegen die staatlichen 
                                  Ausgaben für Hochkultur, während ihnen 
                                  selbst verwaltete Räume verweigert wurden). 
                                  Es existieren weiterhin solche Zusammenhänge, 
                                  z.B. die Hausbesetzerbewegung. Die Berner Reitschule 
                                  ist ein Treffpunkt für politische Gruppen 
                                  und ein alternatives kulturelles Milieu.
 Zu den Ereignissen vom 6. Oktober muss aber 
                                  zweierlei angefügt werden. Zum einen wurde 
                                  die Veranstaltung gegen die SVP von einem breiten 
                                  linken Bündnis getragen, nicht nur von 
                                  der "autonomen Linken". Zum anderen 
                                  wurden die unmittelbaren ‚Zusammenstösse’ 
                                  mit der Polizei - wie jeweils auch am 1. Mai 
                                  in Zürich - nicht unbedingt von den politisch 
                                  organisierten Gruppen ausgetragen, sondern von 
                                  Jugendlichen, deren Aktionsformen "im Kleinen" 
                                  an die Aufstände in den französischen 
                                  Vorstädten erinnern.
 Die vielleicht wichtigste Frage zum Schluss: 
                                  Die Schweiz wird (mit geringen Veränderungen) 
                                  seit 1959 von einer Grossen Koalition aller 
                                  wichtigen Parteien regiert, die auf der sog. 
                                  "Zauberformel" basiert. Ist ein Ende 
                                  dieser "Konkordanzregierung" in Sicht?
 Nein. 
                                  Wie gesagt hat seit 1848 nie ein Regierungswechsel 
                                  stattgefunden, bei dem die regierende(n) Partei(en) 
                                  in die Opposition gehen mussten. Stattdessen 
                                  wurden entsprechend der Entwicklung der politischen 
                                  Kräfteverhältnisse weitere Parteien 
                                  in die Regierung aufgenommen (1943 - als letzte 
                                  der heutigen Regierungsparteien - die Sozialdemokratie). 
                                  Diese politische Stabilität ist für 
                                  die herrschende Klasse wertvoll und soll sicherlich 
                                  so lange wie möglich gewahrt bleiben. Heute 
                                  geht es höchstens um die Verschiebung eines 
                                  Sitzes im Bundesrat von einer Partei zu einer 
                                  anderen; allenfalls um die Aufnahme der Grünen.
 Darauf - insbesondere auf den scheinbaren "Putsch" 
                                  gegen Bundesrat Blocher - konzentriert sich 
                                  die gesamte Medienaufmerksamkeit. Die linken 
                                  Kräfte sollten sich nicht an dieser Wahlfarce 
                                  beteiligen, die kaum etwas mit realen sozialen 
                                  Problemen und Kämpfen zu tun hat, z.B. 
                                  in dem sie auf die "Anti-Blocher-Linie" 
                                  einschwenken.
 Eine kritische Haltung zur Medienmaschinerie 
                                  und zur institutionellen Politik ist in der 
                                  heutigen Situation unerlässlich, um Ansätze 
                                  für eine neue Linke zu entwickeln. Wir 
                                  müssen nicht nur gegen Blocher, sondern 
                                  gegen den ganzen Bundesrat kämpfen, denn 
                                  wenn nicht gerade Wahlen sind (teilweise sogar 
                                  dann) setzen die Regierungsparteien Hand in 
                                  Hand eine Politik um, die ebenso neokonservativ 
                                  wie neoliberal geprägt ist und verheerende 
                                  ausländerfeindliche Akzente setzt.
 (Interview: 
                                  Rosso Vincenzo)
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