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Gesundheitssysteme in Europa –
Veränderungen und Widerstand

Thadeus Pato - aus Inprekorr Nr. 5/2011, September/Oktober


Der folgende Text wurde als Einleitung für die europäische Konferenz für GesundheitsarbeiterInnen und -aktivistInnen im IIRE (International Institute for Research and Education) in Amsterdam verfasst, die vom 7. bis 8. Mai 2011 dort stattfand. Er soll einen groben Überblick über die Maßnahmen geben, die seitens der Herrschenden in den verschiedenen europäischen Ländern implementiert wurden, um die bestehenden Gesundheitsversorgungssysteme zu verändern, und er versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, ob eine generelle „Linie“ betreffend die Gesundheitspolitik erkennbar ist, ungeachtet der regionalen und nationalen Unterschiede. Aufgrund der weiterhin rasch voranschreitenden Veränderungen ist diese Analyse nicht „fertig“, sie muss weitergeführt werden, es handelt sich um „work in progress“.

1. Die unterschiedlichen Gesundheitssysteme

Grundsätzlich unterscheidet man vier verschiedene Systeme der Finanzierung der Gesundheitssysteme – jedenfalls in den industrialisierten Ländern:

  • Das sogenannte Bismarck-System, benannt nach dem vormaligen deutschen Reichskanzler Bismarck, wurde von diesem Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt. Es handelt sich um ein System von (einer oder mehreren) öffentlichen, nicht profitorientierten Krankenversicherungen, in die jede Person unterhalb einer bestimmten Einkommensgrenze einzahlen muss1. Die Beitragshöhe hängt vom Einkommen ab. Das System ist selbstverwaltet, das Ausmaß der Leistungen ist gesetzlich festgelegt. Ärzte und Krankenhäuser werden direkt von der Versicherung bezahlt, es gibt einen Katalog fester Preise für jede Leistung. Grundsätzlich werden alle „notwendigen“ Maßnahmen bezahlt. Aber die Behandlungsinstitutionen sind Privatunternehmen, ausgenommen ein Teil der Krankenhäuser. Beispiele für dieses System wären Deutschland und Österreich.
  • Das sogenannte Beveridge-System, benannt nach dem britischen Ökonomen und Sozialreformer Beveridge, wurde am Ende des 2. Weltkriegs in Großbritannien eingeführt. Es handelt sich um ein komplett steuerfinanziertes System, die Verwaltung der Mittel hat eine staatliche Behörde, der NHS (National Health Service) inne. Generell werden alle „notwendigen“ medizinischen Maßnahmen bezahlt. Beispiele für ein solches System sind Dänemark, Großbritannien, Irland, Spanien, Portugal, Finnland, Schweden, Norwegen und Italien.
  • Das sogenannte Semaschko-System, benannt nach dem ersten Volkskommissar für Gesundheit der Sowjetunion, ist ein komplett staatlich kontrolliertes und in staatlichem Besitz befindliches System, inklusive Hospitäler und Arztpraxen/Ambulatorien. Die Versorgung ist prinzipiell kostenlos. Ein Beispiel war das polnische System2, aber auch die meisten anderen Länder des ehemaligen sogenannten Ostblocks.
  • Das vierte System, das des freien „Gesundheitsmarktes“, gibt es in Europa nicht, aber die USA haben ein in der Hauptsache marktbasiertes System.

Alle diese Systeme sind, wie der niederländische Soziologe Abram de Swaan einmal schrieb, Systeme, die die „externen Risiken“ (d. h., die sozialen Folgen der Verstädterung und damit des Verlustes gewachsener sozialer Netzwerke) kompensieren sollen, die durch den Aufstieg des industriellen Kapitalismus generiert wurden.

Man muss dabei betonen, dass heutzutage praktisch keines dieser Systeme mehr in seiner „Reinform“ existiert. In den letzten Jahrzehnten wurden eine ganze Reihe von Veränderungen vorgenommen, die die ersten drei genannten aufgeweicht, oder besser gesagt geschwächt haben, in einigen Fällen wurde sogar ein kompletter Systemwechsel vorgenommen. Beispielsweise muss man in einigen Ländern feste oder abgestufte „Selbstbeteiligungen“ bezahlen, einen Teil der Arzneimittelkosten, einen festen oder auf Behandlungstage bezogenen Zuschlag für Krankenhausbehandlung etc. In der Schweiz zum Beispiel wurde vor einigen Jahren ein System eingeführt, das in einer basalen öffentlichen Versicherung besteht (in die jedeR die gleiche Summe einzahlt, unabhängig vom Einkommen), sowie aus einer privaten „Zusatzversicherung“. Die Niederlande wählten einen ähnlichen Weg. Wir werden später hierauf zurückkommen.

Darüber hinaus ist zu sagen, dass in allen Ländern ein mehr oder weniger großer privater Sektor im Gesundheitswesen existiert, der in der Regel nur für die Reicheren zugänglich ist.

Das Militär wiederum hat generell ein komplett paralleles System für seine Soldaten.

2. Was sind die Gründe für die Veränderungen, die sich in allen Systemen in den letzten Jahrzehnten abspielten?

Die offizielle Lesart ist, dass die Gründe dafür, die Systeme zu einem mehr oder weniger marktorientierten, individuell finanzierten Konstrukt umzuwandeln, darin liegen, dass die Kosten für das öffentliche System zu hoch seien. Das ist nicht wahr, und das ist leicht zu beweisen (Grafik 1, Tabelle 1):

Aus den gezeigten Daten geht eindeutig hervor, dass das US-System, das das am stärksten marktorientierte ist, auch das teuerste ist – und zwar mit großem Abstand. Das zweite Argument ist, dass die Qualität der Versorgung durch ein privates Versicherungssystem verbessert würde. Das ist ebenfalls unwahr. Die entsprechende Zahlen und Untersuchungen zeigen, dass es keine Korrelation zwischen der Verfasstheit des Systems und dem medizinischen Outcome gibt. Ein Beispiel ist die Lebenserwartung. (Grafik 2)

Außerdem muss man sagen, dass eine Untersuchung der WHO zeigt, dass vom Standpunkt der Patientenzufriedenheit die privaten Systeme am schlechtesten abschneiden. (Grafik 3)

Was sind dann die wahren Gründe? Es gibt zwei Arten. Zunächst die kurzfristigen:

  • Die Finanznot der Regierungen als Resultat der Wirtschaftskrisen. Durch den Verkauf öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen versuchen sie, ihr Finanzproblem zu lösen und gleichzeitig durch die Schwächung des öffentlichen Systems einen Teil der Kosten (Subventionen etc.) loszuwerden, indem sie auf ein System der individuellen, privaten Versicherung umschwenken.

Das zweite sind die langfristigen Gründe:

  • In einer Zeit niedergehender Profitraten und einer schweren langandauernden Verwertungskrise des Kapitals drängt letzteres in den öffentlichen Sektor, der ihm bis dato (teilweise) versperrt blieb. Es versucht so, Gesundheitsversorgung vom öffentlichen Gut zu einer gewöhnlichen Ware zu machen.3

Das bedeutet schlicht, dass die Privatisierung das System teurer machen und die Ergebnisse verschlechtern wird. Der Unterschied ist, dass die Kosten von den Individuen getragen werden und nicht von einem Solidarsystem, wodurch die Möglichkeiten des Kapitals, in diesen Sektor zu expandieren, erheblich besser sind.

3. Die hauptsächlichen Widersprüche

Andererseits muss man sagen, dass die existierenden Systeme tatsächlich nicht besonders gut funktionieren. Aber das hat Gründe, die nicht aus dem System als solchem herrühren. Die Probleme, die all die genannten Systeme haben, beruhen auf zwei Hauptwidersprüchen:

  • Es existiert ein inhärenter Widerspruch zwischen dem kollektiven und solidarischen Charakter der Beveridge-, Semaschko- und Bismarck- Systeme und der privaten Aneignung der kollektiv aufgebrachten Mittel durch die jeweiligen Dienstleister, einschließlich der Industrie wie z. B. Pharmaunternehmen, Medizintechnikproduzenten etc.
  • Der zweite Widerspruch ist der zwischen dem Interesse des Individuums wie der Gesellschaft an einer sicheren, effizienten und billigen Gesundheitsversorgung und dem Interesse der privaten Anbieter und Produzenten daran, immer mehr Produkte zu verkaufen, Operationen durchzuführen etc.pp. Das heißt, es handelt sich um den Widerspruch zwischen der öffentlichen und solidarischen Grundverfasstheit des Finanzierungssystems und der privatwirtschaftlichen, profitorientierten, kapitalistischen Struktur (eines Teils) des Versorgungssystems. 4

Diese Widersprüche führten beispielsweise in Deutschland bereits zu einer Situation, in der es offensichtlich ist, dass 50–60 % der arthroskopischen Eingriffe am Kniegelenk (um nur ein Beispiel zu nennen, es gibt unzählige weitere) heute schlicht unnötig sind. Aber wer ein privates Ambulatorium oder eine Klinik betreibt, der muss ein Minimum an Prozeduren durchführen, an Produkten verkaufen etc., sonst geht er schlicht bankrott.

Die Analyse ist noch etwas komplizierter, aber es ist hier nicht die Zeit, ins Detail zu gehen. Um nur eines noch zu benennen: Es gibt einen weiteren Widerspruch, nämlich einen innerkapitalistischen. Ein Teil der Kapitalisten möchte die Kosten für die Gesundheitsversorgung reduzieren, die eine der am schnellsten wachsenden Branchen in den Industriestaaten ist, und zwar aus mehrerlei Gründen, hauptsächlich deshalb, weil die Menschen ihr Geld nur einmal ausgeben können, und sie deshalb ein Interesse an einer Limitierung haben, während die Kapitalgruppen, die im Medizingeschäft arbeiten, weiter expandieren wollen.

Und dann gibt es noch den fundamentalen Widerspruch zwischen dem sozialen Charakter und der sozialen Bedingtheit von „Gesundheit“ und der individuellen Herangehensweise an sie, die das existierende System repräsentiert, ausgedrückt in dem herrschenden Paradigma, dass „Gesundheit“ individuell erreicht werden könne. Wir werden auch darauf noch am Ende des Vortrags zurückkommen.

4. Welche Veränderungen haben sich in den letzten Jahrzehnten abgespielt?

Grundsätzlich können wir eine Reihe von Maßnahmen beobachten, mittels derer einerseits der Wunsch des Kapitals im Medizinbereich, den Sektor zu durchdringen und Gesundheitsversorgung vom öffentlichen Gut zur Ware zu machen, befriedigt werden soll, und andererseits ein Minimum von sozialer Absicherung gesichert werden soll, die zur Aufrecherhaltung der sozialen Kohärenz und wegen des Bedarfs der Unternehmer an einigermaßen gesunden Arbeitern nötig erscheint. Diese Maßnahmen und das Ausmaß, in dem sie angewendet wurden und werden, sind in unterschiedlichen Ländern unterschiedlich, nicht nur wegen der unterschiedlichen Ausgangsbedingung, sondern auch wegen des unterschiedlichen Ausmaßes an sozialem Widerstand und wegen des unterschiedlichen historischen und sozialen Hintergrundes. Aber trotzdem sind sie in den meisten Ländern ähnlicher Art:

  • Privatisierung öffentlicher Einrichtungen (Krankenhäuser, Pflegeheime etc.)
  • Prekarisierung der Arbeit
  • (Teilweise) Privatisierung der Versicherungssysteme (z. B. die private Zusatzversicherung in der Schweiz)
  • Feste oder prozentuale Zuzahlungen (z. B. die 10 Euro Praxisgebühr in Deutschland)
  • Privatisierung der Forschung

Und dann gibt es, besonders in den Semaschko-Systemen, aber nicht nur da, eine zunehmende Tendenz zur Korruption, was sozusagen auch eine Form der „Zuzahlung“ darstellt …

5. Widerstand?

Widerstand gegen die fortschreitende Deregulierung und Privatisierung des Gesundheitswesens ist ein schwieriger Akt. Es gibt europaweit Beispiele für diesen Widerstand, aber meistens ist es nicht ein Widerstand gegen die soeben geschilderte generelle Tendenz als solche, sondern gegen ihre Folgen. Es gab in verschiedenen Ländern Streiks für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen, Kämpfe gegen die Privatisierung von Krankenhäusern etc., aber generell keine Massenbewegung für die Beibehaltung eines öffentlichen Gesundheitssystems als solches. Der Grund ist darin zu suchen, dass dies ein Bündnis zwischen den Beschäftigten im Medizinsektor und der Allgemeinbevölkerung erfordern würde, das sehr schwer herzustellen ist. Aber, wie ein Beispiel aus meiner Region zeigt – es ist möglich.5 Hier sind einige wenige Beispiele, aber ich denke, diesbezüglich sollten wir in der Diskussion unsere Erfahrungen austauschen.

6. Perspektiven

Zum Schluss müssen wir über einen wesentlichen Punkt sprechen. In den Diskussionen in den Gewerkschaften und unter den Aktivisten aus dem Gesundheitsbereich wird in der Regel das grundsätzliche Problem ausgeblendet: 90 % der Mittel werden für Diagnostik und Behandlung existierender oder drohender Erkrankungen ausgegeben, nur 3–5 % für Prävention und Gesundheitsförderung.

Das Problem dabei ist, dass es als bewiesen angesehen werden kann, dass die Effektivität von Prävention und Gesundheitsförderung sehr viel höher ist, als die der Behandlung. Die generelle Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung in den letzten 150 Jahren hat mit Behandlung nicht viel zu tun. Ich will es an einem Beispiel zeigen: Einer der größten Killer des 19. Jahrhunderts, die Tuberkulose, war längst besiegt, als schließlich die Chemotherapie und die Impfung erfunden wurden. (Grafik 4)

Der Effekt des existierenden Medizinsystems für die Gesundheit im Sinne der WHO-Definition ist marginal. Der Grund, warum die Medizinsysteme ein solch gigantisches Ausmaß angenommen haben, liegt nicht im Ergebnis, er liegt in kulturellen Parametern auf der einen Seite und, in erster Linie, in schlicht ökonomischen, d. h. kapitalistischen Mechanismen auf der anderen. Prävention und Gesundheitsförderung erfordern keine Massenproduktion von Waren aller Art, es handelt sich im Wesentlichen um (unproduktive) Dienstleistungen. Es gibt Autoren, die, wie Ivan Illich, behaupten, dass u. U. die moderne Medizin mehr Menschen töte als rette …

Wenn wir also über Perspektiven reden, wofür wir langfristig kämpfen, dann müssen wir auch darüber reden, wie wir das System langfristig vom Kopf auf die Füße stellen, indem wir Prävention und Gesundheitsförderung an die erste Stelle setzen und damit Gesundheitsprobleme vermeiden, bevor sie entstehen. Es ist klar, dass wir auch in Zukunft ein das System für Diagnostik und Behandlung brauchen werden, aber das wird

  • viel kleiner,
  • öffentlich, d. h. von der Bevölkerung selbstverwaltet, mit angestellten Professionellen, die gewählt werden,
  • non-profit,
  • vernünftig geplant
  • und egalitär und universell sein, d. h. jedeR ist eingeschlossen und niemand kann zusätzliche „private“ Angebote wahrnehmen.

Aber wir müssen aufpassen: Heutzutage, unter den geltenden Bedingungen, wird das Argument, dass vorbeugen besser sei als heilen, oft missbraucht, um die existierenden Systeme schwächen und abbauen zu können. Deshalb müssen wir betonen, dass die genannten Prinzipien nicht isoliert gesehen oder gar eingeführt werden können, sondern nur in integrierter Form. Jeder einzelne Punkt ist nicht ohne die anderen sinnvoll.

Dazu bedarf es, wenn wir uns an die genannten grundsätzlichen Widersprüche erinnern, einer kompletten Entprivatisierung der gesamten Medizinindustrie, um eben diese Widersprüche aufzulösen. Und das hat z. B. auch die Entprivatisierung der Wissenschaft einzuschließen, inklusive ein Patentverbot. Ich kann hier nicht ins Detail gehen, aber diese Punkte sind höchst wichtig.

Das ist eine Perspektive, die weit in die Zukunft weist, aber wenn wir unmittelbare Forderungen entwickeln möchten, dann sollten wir eine Vorstellung davon haben, wo wir letztendlich hin wollen.

1 In Deutschland gibt es beispielsweise mehr als 300 öffentliche Versicherungen, hauptsächlich
aus historischen Gründen

2 Das polnische System wurde vor einigen Jahren geändert, es handelt sich derzeit um ein
Mischsystem aus Beveridge- und Semaschko- System, aktuell sind weitere Veränderungen
unterwegs.

3 Die öffentliche Struktur des Gesundheitswesens stellt regelmäßig eine Barriere für die Expansion der entsprechenden Industrie dar, weil sie in der Regel beweisen muss, dass neue Produkte und Methoden einen wirklichen Fortschritt darstellen, damit diese in den „Katalog“
der von den Versicherungen bezahlten Leistungen aufgenommen werden.

4 In einigen Ländern ist es nur die medizinische Industrie, die privatwirtschaftlich verfasst ist, in
anderen sind es auch die Versorger (Hospitäler etc.). Das Ausmaß der Durchdringung mit
privatwirtschaftlichen Elementen differiert von Land zu Land.

5 In meiner Region sollten die drei öffentlichen Krankenhäuser an eine private Krankenhauskette
verkauft werden. Es gab eine breite Kampagne, die in eine Volksabstimmung mündete,
wodurch es gelang, die Krankenhäuser in öffentlicher Hand zu halten.